Der Neoliberalismus vor dem "Endsieg"?

Von Oeffingerfreidenker
Von Jürgen Voß
Superlative – schlechte wie gute – gehen uns in der Alltagssprache oft viel zu leicht und damit auch viel zu häufig über die Lippen. Doch was wir zurzeit auf der politi-schen Bühne erleben, stellt wohl alles, was wie uns noch vor fünf oder sechs Jah-ren an Horrorszenarien vorzustellen gewagt hätten, in den Schatten.
Geschah schon die „Bewältigung“ der ersten Finanzkrise 2007 so, dass wir alle glaubten, wir befänden uns in einem falschen Film, läuft zur Zeit im Rahmen der sog. Eurokrise, ein Schurkenstück ab, wie es wohl in dieser Unverfrorenheit seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht mehr vorgekommen ist. Eine sich wissenschaftlich drapierende Ideologie richtet nun seit dreißig Jahren nur soziales und ökonomisches Unheil an, ruiniert die Gesellschaften ganzer Staaten, provoziert die schlimmste Rezession seit 1929 und vernichtet Millionen Existenzen. Doch damit nicht genug. Die Krise eines Währungsraumes, hervorgerufen durch im Dunkeln agierende Zocker, soll jetzt den entscheidenden Schlag gegen die Reste des Nachkriegswohlfahrtsstaates, entstanden in der Defensivposition des Kapitals gegenüber dem bis zur Elbe vorgedrungenen Kommunismus, ermöglichen: Durch eine rabiate, aller wirtschaftlichen Vernunft widersprechenden Austeritätspolitik, die den Nationen des Eurosüdraums aufgezwungen wird und sie garantiert noch tiefer ins Desaster stürzen lässt (wie das Beispiel Griechenland zeigt), als sie es durch ihre „Neoliberalismus-light“ Politik bislang schon waren.
Jetzt folgt die hardcore-Version und zwar brachial. Die Nachdenkseiten vom 9. No-vember berichten über ein Schreiben des EU-Sparkommissars Olli Rehn an die itali-enische Regierung, im dem dieser in nicht weniger als 39 Punkten die gesamte neoliberale Blaupause (Privatisierung und Entstaatlichung, Reduzierung des öffentlichen Dienstes, Deregulation des Finanzmarktes, Schuldenbremse, Erhöhung der Massensteuern, „Flexibilisierung“ des Arbeitsmarktes etc.) dem italienischen Staat zur sofortigen Durchführung mit Berichtspflicht aufoktroyiert.
So erreicht der Neoliberalismus über den durch die Deregulation der Finanzmärkte selbst erzeugten finanziellen „Sachzwang“ exakt die Durchsetzung jener „Reformen“, die einzeln in den jeweiligen Ländern auf demokratischem Wege durchzubringen kaum möglich gewesen wäre oder (ihm) viel zu lange gedauert hätte. Mit anderen Worten: Seinen „Endsieg“.
Auf die absehbaren fatalen ökonomischen Folgen dieser Strategie möchte ich hier nicht eingehen. Aber, wer sich nur Reste sozialer Sensibilität bewahrt hat, muss sich doch jetzt die Frage stellen: Was geschieht in diesen Ländern mit den Men-schen? Welches Schicksal kommt auf den einfachen Bürger zu, der von seiner Hände Arbeit lebt, welche Perspektiven haben insbesondere die jungen Menschen? Gibt es jetzt in Griechenland, Italien, Spanien und Portugal eine ganze Generation, die später in die Geschichtsbücher als die „verlorene“ eingehen wird? Blüht dieser Generation jetzt ein ähnliches Schicksal wie der jungen Generation aus den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts und der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts? Wird sie wie jene das Opfer einer totalitären Ideologie? War es damals der nationalistische Chauvinismus aller europäischen Nationen (und nicht nur des deutschen Kaiserreichs) und später der Revanchismus der Nazis, der den Herrschenden als Instrument diente, von der nicht gelösten sozialen Frage des Kapitalismus abzulenken, so ist es heute eine elitaristisch, ja sozialdarwinistisch argumentierende Ideologie, die medial entsprechend aufbereitet, sich ähnlich totalitär und „alternativlos“ gebärdet wie jene des vorigen Jahrhunderts.
Man mag diese Parallele für zu weit her geholt, ja für völlig übertrieben halten und der Zyniker wird einwenden, lebenslang arbeitslos zu bleiben oder sich in prekären Beschäftigungen bis zum Lebensende durchzuschlagen, sei immer noch viel besser als sein Leben mit 19 Jahren auf den Schlachtfeldern von Verdun, Langemarck oder Stalingrad auszuhauchen. Stimmt! Die Frage ist nur: Wenn dieser Unterschied den Fortschritt eines ganzen Jahrhunderts markiert, was ist ein System wert, das solch einen Fortschrittsbegriff hat?