Der nächste Holocaust wird anders heissen

Von Hartstein

“Zivilisationsbruch. Auf der Singularität des Holocaust zu bestehen impliziert, dass ein ähnlicher Massenmord unmöglich ist. Das ist eine Beschwörung, weil das Gegenteil unerträglich waere.

In Deutschland wird das Dritte Reich retrospektiv, von 1945 her, interpretiert. Jede andere Sichtweise gilt als unangemessen, als Beleidigung der Opfer.

Fuer den amerikanische Historiker Timothy Snyder, den Autor von “Bloodlands”, ist diese Sicht des Holocaust eine gefaehrliche Verkuerzung.

(“Zeit und Glueck trennen uns vom Nationalsozialismus. Darum koennen wir die Nazi Ideen ablehnen ohne darueber nachzudenken, wie sie funktionierten. Weil wir die Umstaende des Holocaust vergessen wollen, sind wir ueberzeugt, dass wir uns von Nazis unterscheiden und verschleiern, wie wir ihnen gleichen. Wir teilen Hitlers Planeten und einige seiner wichtigsten Befuerchtungen. Wir haben uns vielleicht weniger veraendert als wir denken.” Eigene Uebersetzung)
Eine starke These, die Snyder vorallem mit einer ausfuehrlichen Analyse von Hitlers Antisemitismus begruendet. Dieser Teil seiner Argumentation wird Antisemitismusforscher zweifellos beschaeftigen. Ich will diesen Aspekt hier nicht diskutieren.

Snyder weist auf drei weitere Umstaende des Holocaust hin, die er als Warnung fuer die heutige Zeit sieht: den Panik-Modus der 20er Jahre, Hitlers Lebenraum-Konzept und die Praxis des Massenmords.

(Den vollstaendigen Artikel im Guardian kann ich dringend empfehlen. Alle Zitate sind diesem Artikel entnommen. Auf weitere Referenzen habe ich verzichtet.)

Panik-Modus

In den 20er Jahren gab es eine panische Endzeitstimmung, die u.a. durch die Erfahrungen des industriemaessigen, sinnlosen Massensterbens (u.a. Gas, Panzer, Flugzeuge) im 1. Weltkrieg ausgeloest wurde.

Die permanten okonomischen Krisen dieser Zeit schienen diese Panik zu rechtfertigen.

Hitler fokussierte die eher diffuse Stimmung auf zwei Probleme: die Annahme, dass eine globale Nahrungsverknappung bevorsteht und dass die Verantwortlichen der Krise, die global agierenden Juden sind.

Fuer beide Probleme hatte Hitler eine Loesungen: Krieg zur Erweiterung des “Lebensraums” und den Holocaust.
Snyder meint, beides sei unnoetig gewesen.

(“Haette Hitler den Krieg, der zu seinem Selbstmord fuehrte, nicht begonnen, haette er selbst erleben koennen, dass das Problem Europas nicht der Nahrungsmangel, sondern der Nahrungs-Ueberfluss ist. Die Wissenschaft sorgte dafuer, dass es schnell reichlich zu essen gab, sodass der Hitler’s Idee vom Kampf (um ausreichend Nahrung) sehr schnell vergessen war – und damit auch die wahren Gruende fuer den zweiten Weltkrieg.” Eigene Uebersetzung.)

Lebensraum

Hitler misstraute der Agrartechnologie als Alternative zum Krieg, um die voraussehbare Nahrungs-Knappheit zu verhindern.
Er war ueberzeugt, dass nur eine natuerliche, gesund-baeuerliche Landwirtschaft den bevorstehenden Mangel an Nahrungsmitteln verhindern koenne. Dafuer reichten die deutschen Agrarflaechen aber nicht aus. Staaten in Osteuropa “mussten” zerstoert werden, um weitere Anbau-Flaechen zu gewinnen.

Doch das ist nur die eine Seite des Konzept Lebensraum. Die andere ist das (“angeborene”) Bestreben von Menschen, ihre Lebenswelt, die Qualitaet ihre Lebensumstaende zu verbessern. Die USA galten als Masstab. Den Deutschen sollte es besser und besser gehen. Dafuer waren, wie in den USA, technologische und industrielle Innovationen erforderlich.
Der entscheidende Fehler dieser Ueberlegungen war aber, dass “Lebensstandard” mit der “Qualitaet des Lebens” verwechselt wurde.

Bekanntlich wurde diese “Verwechslung” am Ende Krieg nicht korrigiert. Nicht die Qualitaet des Lebens, sondern der hohe Lebensstandard dient bis heute als Mass von Wohlstand und politischer Stabilitaet.

Die Praxis des Massenmords

Im besetzten Westeuropa wurden zivilen Administrationen beibehalten und “lediglich” zur Kollaboration gezwungen. Die deutsche Kriegsfuehrung in Osteuropa dagegen, hat ganz bewusst alle zivilen Strukturen zerstoert und durch eine deutsche Militaeradministration ersetzt. In Frankreich gab es die Vichy-Regierung unter General Petain. Polen wurde zum Generalgouvernment.

Diese osteuropaeischen Regionen ohne zivile Ordnung, ermoeglichten den Zivilisationsbruch. In diesen “Bloodlands”, wurde ungehindert millionenfacher Mord executiert, vorwiegend an Bewohnern dieser Regionen.

Befreit von allen zivilisatorischen Grenzen, haben viele “normale” Menschen freiwillig an den Mordaktionen teilgenommen. Selbst die deutschen Administratoren waren ueberrascht, wie einfach es war, die Massenmorde durchzufuehren.
Westeuropaeischen Juden konnten die Deutschen nicht massenhaft in ihren Heimatlaendern ermorden . Sie mussten zunaechst in die “failed states” Osteuropas transportiert werden.

Parallelen

Die genannten Aspekte des Holocaust, sieht Snyder als Warnung vor einem erneuten Massenmord.

Leider verwendet er als Parallele zu Hitlers “oekologischer Panik”, die Angst vor dem “Klimawandel”. Statt darauf panisch zu reagieren, sollten wir auch heute die Panik durch Vertrauen auf die Wissenschaft abbauen, meint Snyder.

Das ist m.E. zu kurz argumentiert. (Ohne Begruendung.)

Doch zur Zerstoerung staatlicher Strukturen, der zweiten Voraussetzung fuer das Massenmorden in Osteuropa, verweist Snyder auf eine sehr reale Parallele.

(“Die Zerstoerung des irakischen Staates 2003 und die Unsicherheiten waehrend des heissen Sommers 2010, schafften den Raum fuer die Terroristen des Islamischen Staats 2014. Es ist eine verbreitete amerikanischer Fehleinschaetzung, dass Freiheit die Abwesenheit von staatlicher Autoritaet bedeutet.” Eigene Uebersetzung.)

Die US-Interventionspolitik hat zudem Migrationen in die reichen “Ziellaender” in West-Europas ausgeloest, die den “Praxis”-Aspekt des Holocaust aufscheinen lassen.

Bereits die eher geringfuegige Wanderung von einigen zehntausend Fluechtlingen aus Syrien ueber den Balkan versetzt Europa in Panik. Der hemmungslose Einsatz von Knueppeln, Wasserwerfern und Traenengas gegen erschoepfte Maenner, Frauen und Kinder, deren Zwangs-Einweisung in Lager etc. bestaetigen Snyders Analyse. Vor allem auch, weil diese Menschenrechtsverletzungen auf dem Balkan stattfinden, dessen Staaten nach Krieg der 90er Jahre noch nicht wieder stabilisiert sind.

Schlussbemerkung.

Snyder bewegt sich mit seiner Analyse auf “duennem Eis”. Wie schon bei “Bloodlands” wird er sicher heftig kritisiert werden, vor allem wegen seine Neu-Interpretation der Funktion des Antisemitismus fuer den Holcaust. Dieser Aspekt ist m.E. aber weniger wichtiger, als seine Analyse der ideologischen, sozialen und militaerischen Vorausetzungen des Holocaust.

Die Versatzstuecke des Holocaust sind offensichtlich wieder vorhanden: Panik ueber die Bedrohungen der Welt, Sicherung von Ressourcen mit militaerischen Mitteln, zerstoerte Staaten, rechtsfreie Raeume ohne zivile Infrastruktur.

Noch gibt es niemanden, der, wie Hitler, die Krisenstimmung fokussiert, der die Vorausetzungen fuer den Zivilisationsbruch, den Massenmord zusammenfuegen will.

Liegt das vielleicht daran, dass die Opfer sind noch nicht ettiketiert sind?

Wer kommt in Frage? Die Umweltverschmutzer der dritten Welt, die das Ueberleben der Menschheit gefaehrden? Die Islamisten, die alle Nicht-Muslime bedrohen? Die USA oder alle Menschen der ersten Welt mit Ihrem ungehemmten Verbrauch von Ressourcen? Die Dummen oder die Habenichtse, weil die Welt zu klein ist fuer alle? Jeder Zehnte ohne Ausnahme?

Am Mangel an Taetern wird das “neue Projekt” jedenfalls nicht scheitern.

Zwei Nachsaetze:
Ich habe Snyders Analyse und seine Schlussfolgerungen etwas pointiert, um das Grauen, das er anpricht, hoerbar zu machen.
Ich verstehe jetzt, dass die Beschwoerung der Singularitaet des Holocaust eine Sehnsucht ist.

Zwei Anmerkung:
Snyder personalisiert den Faschismus (“Hitler”). Das habe ich hier uebernommen.
Den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Holocaust hat Snyder nicht thematisiert. Diesen Aspekt habe ich daher ausgelassen.

Quelle und gesamter Text: https://www.freitag.de/autoren/hreinhardk/der-naechste-holocaust-wird-anders-heissen