Der Mythos von der Beliebigkeit der CDU

Auf Roland Tichys Homepage beklagt sich Hugo Müller-Vogt, eines der Sturmgeschütze der BILD, über die Beliebigkeit der CDU. Es sei gar nicht mehr auszumachen, in welche Richtung der Kompass zeige, und überhaupt richte Merkel sich fast nur nach Meinungsumfragen. Müller-Vogt hat natürlich immer noch die Phantomschmerzen von 2005, als die CDU das kaum zwei Jahre alte Leipziger Programm begrub, was ihn irgendwie zum Ottmar Schreiner von rechts macht. Aber die These, dass die CDU von Merkel völlig entkernt wäre und nach einem so genannten "Pragmatismus" von Meinungsumfragen getrieben regiere - das Paradox findet sich unbemerkt auch bei Müller-Vogt - ist Unsinn. Die CDU hat sich weit weniger verändert, als das von den Kommentatoren gerne kolportiert wird. Das macht natürlich eine weniger griffige Geschichte, kommt aber der Wahrheit näher. Trotz Atomausstieg und Rente mit 63.
Um sich klarzumachen, warum das so ist, müssen wir zuerst einmal begreifen, dass nicht die Abkehr von Leipzig, sondern Leipzig selbst der Sonderfall war. Der damalige mediale und parteipolitische Konsens, dass es dringend einer Agenda 2010, Agenda 2020 und am besten gleich Agenda2030 bedürfte, mit möglichst großen Streichungen, Senkungen und Kürzungen war letztlich ein Fieber. Es brannte heiß und intensiv, aber kurz. Die Welle begann langsam in den frühen 1990er Jahren und findet einen ersten Höhepunkt in Roman Herzogs berühmter "Ruck-Rede" und der nachfolgenden Debatte vom "Reformstau", der freilich bis zur Agenda 2010 nicht angegriffen wurde. Sowohl 1998 als auch 2002 gewann die SPD ihre Wahlen dezidiert mit einem Programm von Solidarität und Stabilität bei mäßiger Modernisierung. Kuschel-Reformen, sozusagen. Kohl 1998 unterschied sich mehr in Mentalität und Charme als Programm. Auch 2002 war der Gegenpart von Rot-Grün nicht sonderlich stark akzentuiert: CSU-Kandidat Stoiber präsentierte die bayrische Lösung, die immer schon auch einen starken Sozialaspekt enthielt, und die FDP setzte auf den Spaßwahlkampf und das Guidomobil.
Erst die Hartz-Kommission und die Agenda 2010 ließen das Thermomether, das vorher vor allem eine mediale und lobbyistisch geprägte Debatte war, auch politisch ansteigen. Die SPD wurde mit den bekannten Folgen von Schröder brachial auf den neuen Kurs gebracht, die CDU setzte sich in Leipzig mit Merz als Flaggschiff in Szene und die Versprechen von harten Reformen überschlugen sich. Das Fieber hielt zwei Jahre. 2005 riss Schröder, der es erst richtig in Gang gesetzt hatte, das Steuer mit dem Wahlkampf brutal herum und fuhr auf einem hart an 1998 erinnernden Kurs einen respektabel knappen zweiten Platz ein. Das völlige Debakel der CDU vernichtete die Plattform von Merz und Kirchhof. In der Großen Koalition war es dann eher die SPD, die den Abschluss der Agenda vorantrieb. Die CDU kehrte zurück zu ihrem in Dekaden bewährten Konzept, leise über die harten Dinge und laut über den Rest zu sprechen. Nach 2005 war die CDU wieder die Partei, was sie immer gewesen war. 2003 war der Versuch gewesen, eine riesige FDP zu werden. 2009-2013 zeigt, was die Konsequenz war.
Und ja, es ist wahr dass Merkel im Angesicht krasser Umfragewerte den endgültigen Atomausstieg vollzog und dass sie nun wohl der Homoehe ihren Segen geben wird. Das haben andere CDU-Kanzler vor ihr nicht anders gehalten. Niemand regiert lange gegen den Trend. Die CDU hat in ihrer Geschichte immer wieder Dinge akzeptiert, die vorher nie vorstellbar waren, ob in Regierung oder Opposition. Die Pille und die Abtreibung blieben unter der CDU legal, die Ostpolitik wurde nicht aufgegeben, und dass Kohl kein Problem hatte, angesichts der vox populi die D-Mark im Kurs 1:1 gegen die Ostmark zu tauschen ist auch bekannt. Der Zeitgeist ist auf dem gesamten gesellschaftspolitischen Feld gegen die CDU, und sie passt sich an, um zu überleben. Die Krümel überlässt sie dabei der AfD. Aber sehen wir uns einmal an, wo Merkel nicht nur nicht einen Fußbreit Boden geopfert hat, sondern sogar die gesamte andere Parteienlandschaft auf ihren Kurs eingeschworen hat.
Das betrifft einerseits das Feld der Wirtschaftspolitik und andererseits das Feld der Innenpolitik. Ersteres mag auf den ersten Blick überraschen. Hat die CDU nicht mit den Mindestlohn umgesetzt und die Rente mit 63? Natürlich, aber beides widerspricht keinesfalls dem CDU-Markenkern. Eine Wirtschaft mit menschlichem Antlitz war schon immer ihr wichtigstes Unterscheidungsmerkmal gegenüber der FDP. Es war die CDU, die das korporatistische Modell in den 1950er Jahren etabliert hat. Die CDU ist und war schon immer die Partei der großen Konzerne, nicht der kleinen Unternehmen, und hat viel weniger Probleme mit Regulierungen als es die FDP hat, deren Klientel darin einen stärkeren Wettbewerbsnachteil gegenüber der CDU hat. Aber noch viel deutlicher sehen wir das in Deutschland in der Schuldendebatte: kaum etwas ist eine so klassisch konservative Idee wie die Schuldenbremse. Sie hat gigantische Schneeballeffekte auf Jahre und Jahrzehnte hinaus und wird den Handlungsspielraum jeder zukünftigen Regierung definieren. Und nicht nur das, die CDU hat auch dafür gesorgt, dass jede vorstellbare zukünftige Regierung die Schuldenbremse nicht nur akzeptiert, sondern aktiv bejaht. Das ist eine mindestens so große politische Leistung wie ihre Unterwerfung unter die gesellschaftspolitische Moderne, nur wird darüber kaum geredet.
Aber noch viel deutlicher wird der vollständige Sieg der CDU auf dem Feld der Europapolitik. Die gesamte Politik der EU ist zutiefst von konservativen Ideen geprägt, genauer, von deutschen konservativen Ideen. Die Schuldenbremse wurde nicht nur auf deutscher, sondern europäischer Ebene verankert. Die CDU - vor allem ihr diesbezüglicher Frontmann Schäuble - hat sozialistische und konservativen Regierungen auf diesen Kurs eingeschworen, so sehr dass 27 EU-Staaten eine vereinte Front gegen Griechenland bilden. Die Vorstellung, dass der Austeritätskurs gegenüber Griechenland und anderen verschuldeten Staaten ein Fehler ist, dass es mehr Inflation in Deutschland und ein Investitionsprogramm in Südeuropa braucht ist effektiv eine Exotenposition.
Auch innenpolitisch hat die CDU einen fast vollständigen Sieg errungen. Sie definiert hier völlig die Agenda. Bürgerrechte sind im deutschen Mainstream praktisch kein Thema, die Vorratsdatenspeicherung wird kommen und der Verfassungsschutz, der BND und das BKA ihre aufgeblähten Kompetenzen behalten. Auch hier besteht ein Allparteienkonsens möglicher Regierungskoalitionen, der praktisch nicht aufzubrechen ist. Auch im Strafrecht verhindert die CDU erfolgreich progressivere Strukturen, ob bei kontrollierter Drogenentwöhnung oder alternativen Gefängnismodellen. Auch die gesamte Integrationsdebatte wird mit den Prämissen der Konservativen geführt. Hier ist der Kampf zwar am offensten, aber insgesamt genießen die Konservativen zumindest aktuell noch einen leichten Vorteil.
Wer der Überzeugung ist, dass konservative Ideen in Deutschland keine Basis haben, der schaut schlicht nicht genau hin.

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