Der Mörder weinte - über die Zähmung einer Bestie.

Von Derdigitaleflaneur



Eine Kindheit am Rande der Welt, dort wo nur karges, wildes, nahezu vergessenes Land zu finden ist. Schicksale hart und fruchtlos wie die Böden, ein steinerner Horizont gerahmt vom staubigem Gebirge und tobendem Meer, so umreisst man kurzen Worten die Heimat des kleinen Paolo. 
Dort, im tiefen Süden Chiles, in der Randzone Feuerlands wächst er auf. Klein, staubig, neugierig, ein Kind wie jedes andere, bis eines Tages ein Mann, ein Flüchtling, ein Mörder, ein verletzte Bestie voller Gram und Wut, in diese bislang ebenso lieblose wie sichere Abgeschiedenheit eindringt - und alles für immer verändert. Angel Allegria ist nicht nur ein Störenfried, sondern auch der brutale Mörder der Eltern Paolos.
Das obere Drittel des Bildes zeigt einen klugen Kurzdialog, der mir ihn dieser radikal reduktiven Form bislang noch nicht unter kam. Und möglicherweise bezieht der gesamte Comic aus diesem zehn Worten seine Kraft, Relevanz und Macht.
Ohne diese Illustration ist es meiner Meinung nach unmöglich über den Inhalt zu sprechen, weil hier Form & Inhalt absolut symbiotisch interagieren. Konträr zu den Bleiwüsten zahlreicher Graphic Novels wird dem Wort hier deutlich weniger Raum gegönnt als dem Bild.
Eine ungewöhnlich gnadenlose Eröffnung für einen Comic und ein Erzählraum, in dem ein ausgefallenes psychologisches Duell stattfindet. Denn dieses wehrlose, ausgelieferte Kind interagiert mit dem Mörder seiner Eltern, der ihn in eine neue Zwangsform von Familie hineintreibt. Dieser kleine, kluge Mensch zähmt die Bestie, die sich nun Vater nennen lässt.   
Ganz richtig - klingt nicht nach der erzählerischen Stangenware, die sonst in den Auslage präsentiert wird, dieser Titel ist ausgefallen, vielleicht auch nicht marktförmig genug, zu erklärungsintensiv, zu sperrig, zu schwer, aber er ist phantastisch. Und es ist sehr erfreulich, dass sich in Deutschland eine Plattform findet, die genügend Mut besitzt ihn zu verlegen.
Der Kleinverschlag Schreiber & Leser macht seit einiger Zeit durch hochwertige, eigenständige Publikationen auf sich aufmerksam, welche man zwar marketingsprechkonform unter dem Grosslabel Graphic Novel ablegen könnte, was aber meiner Meinung zu kurz greifen würde, denn diese grafischen Literaturadaptionen bewegen sich in einem anderen Spannungsfeld. 
Thierry Murat, dessen deutsche Erstveröffentlichung ich hier bereits vorstellte (Lauras Lied) praktiziert auch hier einen sehr sehr zurückhaltenden Einsatz von Text, der in einer für aktuelle Comicpublikationen ungewöhnlichen Form verwendet wird. Die wirkungsstarken Bilder werden nur von wenigen Zeilen rumrahmt, selten sind diese im Bild selbst eingebunden, sondern flankieren die Bildränder. Man denkt an Gemälde mit Unter- oder Überschriften, aber selten an ein Narrativ besteht aus dem Gewebe von Bild und Text.Und jedoch, die beiden, scheinbar so disparate Formen bündeln sich in einer ausgefallenen, gekonnten Form - auch wenn man zum Genuss erst einmal eine Hürden überfinden muss, denn die Bild/Text-Verschränkung wirkt zunächst etwas spröde und statisch, lässt man sich aber auf den langsam dahinfliessenden Farbentaumel ein kann man der Sogwirkung des Comics nur noch schwer entkommen.Die Suggestivwirkung der im Roman von Anne-Laure Bondoux verwendeten bildhaften, anspielungsdichten Sprachlichkeit wird durch die Murats konsequente Komprimierung nochmals verstärkt. Die mediale Transformation vom Roman zur bildverstärkten Adaption gelingt mit Bravour. Beim Übergang in dieses "andere Medium" dominiert die Reduktion, die Schärfung, die Schweigsamkeit.
Im Gegensatz zu den bis zur Schmerzgrenze ausgewälzten, schwatzhaften, und oftmals nichtssagenden, autobiografischen Skizzen des Segments des "literarischen Comics"  findet hier tatsächlich eine Verschmelzung zweier Erzählstile statt. Murat ist gezwungen, den Raum, den der Roman zur Schilderung von Situationen, Stimmungen, Erwartungen und Befürchtungen besitzt, maximal zu verdichten und diese Ableitung ist ihm meines Erachtens hervorragend geglückt. 
Diese Stück comicgewordene Literatur legt man aus der Hand und bemerkt erst dann, dass diese Geschichte noch lange nicht zu Ende ist, sie vervollständigt und erweitert sich und wirkt lange nach. Seltsam eindrucksvolles, kleines Buch, dessen lebensbejahende Botschaft im Angesicht brutaler Macht überrascht und berührt. Kann hier erworben werden.