Uwe Lehnert hat hier einen Kommentar hinterlassen, den ich – damit er nicht verloren geht – an dieser Stelle in voller Länge als Artikel einstellen möchte. Es geht um die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle, über die am vergangenen Donnerstag der “Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Missbrauchs von Kindern“, Johannes-Wilhelm Rörig, Bilanz zog.
von Uwe Lehnert
Uwe Lehnert
Für mich ist völlig klar – man mag mir da gern widersprechen – dass hier die Kirche über alle ihre Kanäle und willfährigen Politiker, von denen die Kirche genügend an jeweils wichtigen Positionen platziert hat, dafür Sorge getragen hat, dass dieses traurige Thema möglichst in den Schubladen verschwindet. Was soll man auch erwarten von einer streng katholischen SPD-Generalsekretärin Nahles (begeisterte B16-Anhängerin), einem Katholiken Thierse (im letzten Jahrhundert stehen geblieben), einer Hardcore-Protestantin Griese (vor allem ihrer Theologie verpflichtet), einem FDP-Rösler (»ich bin begeisterter Katholik«), einer Göring-Eckardt (grüne Vorzeigekandidatin und führende Frau der evangelischen Kirche) – alles tonangebende Weichensteller in der Bundespolitik, von den CDU/CSU-Schranzen ganz zu schweigen? Sämtliche Parteien, sogar die LINKEN mit Gysi (»ohne Religion keine Moral«) und dem Katholiken Lafontaine, haben an ihrer Spitze Leute, die sich den »Werten des Christentums« verpflichtet fühlen. Zu diesen Werten passen nun mal überhaupt nicht die wirtschaftliche Ausbeutung von Heimkindern und sexueller Missbrauch durch das kirchliche Bodenpersonal.
Bei der Gelegenheit mal ein kleiner Ausflug in die sog. christlichen Werte, auf die man sich ja ständig beruft. Denn was wird unter den »christlichen Werten« verstanden?
Es sind die Anerkennung Gottes als Schöpfer der Welt und des Menschen und zugleich als oberste Moralinstanz, die Zehn Gebote und die wesentlichen Aussagen der Bergpredigt wie Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Barmherzigkeit. Alle diese normstiftenden Prinzipien würden aus der Bibel folgen, deshalb habe dieses Buch als Grundlage allen täglichen, vor allem moralischen Handelns zu gelten.
Unterziehen wir diese sogenannten christlichen Werte mal kurz einer zusammenfassenden Beurteilung. Erstens: Den christlichen Gottesglauben für alle verbindlich zu machen, ist in einer multi-weltanschaulichen Gesellschaft undemokratisch. Dies ist konkret der Fall, wenn Verbote, wie z. B. zum Schwangerschaftsabbruch, zur Sterbehilfe oder zur Präimplantationsdiagnostik, mit dem christlichen Menschenbild begründet, aber als Gesetze allgemein verbindlich gemacht werden, also auch für Anders- und Nichtgläubige gelten sollen. Zweitens: Die Zehn Gebote (vgl. 2. Buch Mose) stammen aus archaischer Zeit. Das 1. Gebot verneint die Religionsfreiheit und droht mit Sippenhaft (»bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation«), das 10. Gebot spricht wie selbstverständlich von Sklaven (neuerdings schönfärberisch »Diener« genannt) und stellt Frauen den Sklavinnen und Haustieren gleich, quasi als natürlichen Besitz des Mannes dar, von Gleichberechtigung der Geschlechter ist keine Rede. Die Gebote 5 bis 9 sind selbstverständliche (evolutionär entstandene) Verhaltensnormen, die weltweit in jeder Gesellschaft Gültigkeit haben, also nicht als typisch christlich gelten können, sie finden sich im Grundsatz schon im Ägyptischen Totenbuch und im Codex Hammurabi des antiken Mesopotamien. Drittens: Auch die Grundaussagen der Bergpredigt entsprechen in weiten Teilen einem weltweit gültigen Ethos. Die gern als spezifisch christlich bezeichnete Barmherzigkeit und Nächstenliebe findet sich durchaus auch in anderen Religionen und entspricht im Übrigen dem, was mit Solidarität bezeichnet wird, ein Prinzip gegenseitig praktizierter, evolutionär entwickelter Mitmenschlichkeit. Viertens: Die in vielen Teilen Gewalt (z.B. Landraub) und Inhumanität (z.B. Sklaverei) rechtfertigende sowie heutige moralische Standards negierende Bibel als Grundlage moralischen Verhaltens zu bezeichnen, zeugt von sträflicher Unkenntnis der Bibel oder ist schlicht unredlich.
Es gilt vielmehr festzustellen: Die uns heute wichtigen Werte und Normen stammen gerade nicht aus der Bibel, sie sind Ergebnis moralisch-ethischer Weiterentwicklung. Es sind dies die Menschenrechte wie Meinungsfreiheit als geradezu grundlegendes Recht, das Recht auf Selbstbestimmung, Gleichheit und Gleichberechtigung, Religions- und Wissenschaftsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und vieles andere mehr. Nichts davon steht in der Bibel, sie steht einem demokratischen, die Menschenrechte verbürgenden Staat geradezu entgegen. Alle diese Rechte mussten dem Christentum bzw. einer politisch agierenden Kirche in verlustreichen Kämpfen abgetrotzt werden. Die Kriterien, nach denen selbst Christen die Steinigung von Ehebrecherinnen, das Töten von Homosexuellen oder das Kaufen und Halten von Sklaven ablehnen, obwohl diese Gebote bzw. Aufforderungen biblisch legitimiert sind, stammen gerade nicht aus der Bibel, sie sind ein Ergebnis der auf Vernunft gründenden Aufklärung.