Der Marktanteil ist mir zu hoch

Neulich schrieb ich, "... wie es sie in Dänemarkt zu geben scheint..." - in Dänemarkt! Der betreffende Text war schon einige Minuten online verfügbar, da es mir ins Auge stach. Beim Eigenlektorat ist es mir entkommen, dieses Dänemarkt. Oder ich entkam mir selbst, denn ein solcher Tippfehler, er kann Zufall sein - oder aber das unterbewusste Erzeugnis aus einem Milieu, das fortwährend marktschreierisch agiert.

Überall lese ich nur noch Markt. Der Markt erholt sich - der Markt regelt alles - der Markt ist in Aufruhr - der Markt hat reagiert - der Markt würdigt die Entscheidung XY nicht. Und da wir in einer pluralistischen Gesellschaft leben, gibt es den Markt auch in Mehrzahl: Märkte erholen sich, sind in Aufruhr oder spielen verrückt. Märkte anerkennen die Maßnahmen zur Eurorettung. Wenn man soviel Markt liest und hört, ist es da nicht eigentlich völlig normal, wenn man aus einer Mark einen Markt macht?

Mittlerweile ist der Schreibfehler behoben. Eitelkeiten treiben zur Verbesserung. Einen Augenblick lang habe ich überlegt, ob ich diesen Fehler nicht als Clou verkaufen sollte - als Wortneuschöpfung, als genialen Geistesblitz. Fehler nicht zugeben, sie als gekonnte Stilistik verkaufen! Dänemarkt wäre doch toll, sagte alles aus - nur fiel mir ein: mit Deutschland kann man das nicht machen, obgleich Deutschland mehr marktschreierisch erscheint als der nördliche Nachbar. Deutschmarkt klingt nicht passend, nicht süffisant - es klingt hohl, dumpf und holperig. Eine Wortschöpfung, wie man sie bei etwas originell klingen wollenden Forenbesuchern viel zu oft aushalten muß.

Ich kann es nicht mehr hören - und weil mir das so bewusst ist, dass ich nichts mehr davon hören kann, hab ich es getippt. So könnte man das laienfreudianisch erläutern. Markt, nur überall Markt - "die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Märkten". Und hat nicht Hegel geschrieben, dass "die Weltgeschichte (...) der Fortschritt im Bewusstsein der Märkte" ist? Oscar Wilde meinte doch mal, dass der "Fortschritt (...) nur die Verwirklichung von Märkten" sei. Markt, ich höre nur noch Markt und Märkte! Die Geschichte als Markt der Märkte! Cäsar brachte den Markt nach Gallien - der große Karl rottete die Sachsen mit der unsichtbaren Hand des Marktes aus - Columbus wollte Märkte erschließen, was sogar so stimmt; er hätte es wahrscheinlich so formuliert, hätte er die heutige Sprache besessen - Wollt ihr den totalen Markt?, schrie der hinkende Herrenmensch. Diesen historischen Eindruck habe ich zuweilen mittlerweile, wenn ich höre, wie oft dieses Wörtchen benutzt wird. Die Märkte fürchten sich vor Inflation? Wirklich? Ich glaube eher, der Markt wird schon lange inflationär abgenutzt.

Die holde Marketenderin an der Spitze des Marktes Deutschland spricht mehr von Märkten als von der Gesellschaft. Sie sagt, Die Märkte sind zufrieden mit unserer Entscheidung! statt Die Bürgerinnen und Bürger sind zufrieden! Sie erklärt, Die Märkte erholen sich! statt Die Kunden kaufen wieder munterer! Wer ist denn dieser Markt? Wer die Märkte? Le Marché c'est moi! Nicht nur moi - alle sind wir der Markt. Wir kaufen, wir beeinflussen mit unserem Marktverhalten die Wirtschaft und die spekulativen Transaktionen. Marktverhalten, schrieb ich wirklich Marktverhalten? Man benutzt schon diesen widerlichen Jargon, merkt es erst zu spät, merkt es erst, wenn das Wort schon entfleucht ist! Früher sprach man von Wirtschaft - das klang annehmbarer, vielleicht weil Wirtschaft auch eine Kneipe sein konnte. Wenn Ökonomen in ihrer Arbeitszeit andauernd von Märkten schwatzen, dann ist das Berufspech - aber warum ist plötzlich alles im Alltag Markt? Wieso kriecht der Markt in jede Nische?

Die Lebenswirklichkeit stinknormaler Menschen hat nichts mit Märkten zu tun. Die Märkte sind abstrakter als der Gott. Die Märkte reagieren empfindlich! klingt fatalistisch. So, als könne man nichts gegen Empfindlichkeiten machen. Man weiß ja nicht mal genau, wer diese Märkte sind - wie also dagegen angehen? Gibt es eigentlich noch Wirtschaftsleben? Oder leben schon die Märkte? Einen Fischmarkt kann ich mir vorstellen - und wenn Markttag ist, dann auch einen Gemüse- und Obstmarkt. Aber die Märkte? Fischmärkte reagieren auch nicht so sehr empfindlich - eher mein Magen, wenn er mit mir über solchen pilgert. Immer wenn ich höre, dass die Märkte so oder so reagierten, denke ich an Götzendienst. Die Gottheiten von Naturvölkern agierten selten - sie reagierten. Man opferte, sie machten Regen; man sang, sie wüteten und ließen Donner erschallen. Nichts geschah ohne vorherige Handlung des Menschen. Die Märkte sind genauso gestrickt. Sie können nur reagieren, sie haben offenbar keinen Gestaltungsraum - die Märkte sind, wie es manche Gottheit auch war: cholerisch, zynisch, voyeuristisch und misanthrop - und das immer antriebslos, nie freiwillig, immer nur auf das reagierend, was seine Schäflein so treiben. Was die Märkte sind, ist schwer zu erfassen, wahrscheinlich sind sie irgendeine mystische Gestalt, ein Götzen-Kollektiv aus dem Börsen-TV - wie sie sind, das ahnt man aber. Sie scheinen dem Fatalismus ergebene Abgötter zu sein, die ihre Schäfchen nicht beschützen, sondern ausweiden.

Die Märkte, die Märkte! Sie haben auch Angst vor ihnen, wie vor einem zürnenden Gott. Würde uns irgendein Captain Cook besuchen, er würde in sein Tagebuch notieren, dass diese seltsamen Menschen aus dieser seltsamen Welt einem Götzen dienen, den sie Mercte oder Merckté nennen. Sie ducken sich, kriegen ängstliche Augen, wenn sie von ihm sprechen. Mercte regelt alles. Wenn deren Häuptlinge etwas entscheiden, erklären sie ihrem Stamm, dass Mercte sich nun erholt habe - er war scheinbar sehr enttäuscht von den Menschen, brauchte dringende Erholung von ihnen. Deren Häuptlinge sind nicht nur politische, sondern vermutlich auch religiöse Anführer - sie halten sich Priester, die sogenannten Econno-Men, die jedoch auch weiblich sein können. Sie fungieren als Medium zwischen irdischer Wirklichkeit und göttlichem Willen. Mercte zürnt oft und sie tun dann alles, damit er wieder friedfertig wird. Wenn ein Mensch ausgebeutet wird, für viel Arbeit wenig Geld erhält, dann sagen die Häuptlinge, dass es der Wille von Mercte ist - Mercte regelt alles, er ist eine verstümmelte Gottheit, hat nur eine Hand, die aber dafür unsichtbar ist. Gesättigt ist Mercte nur sehr selten. Die Menschen dort haben keinen freien Willen, alles was sie tun wird von Mercte bestimmt. Man kann getrost sagen, dass sie ein Gemeinwesen führen, das einem Gottesstaat gleicht. Wer an Mercte zweifelt, den nennt man Frevler. Die Econno-Men sind ständig auf Wanderschaft und erzählen bei Versammlungen, die sie Tock-Runden nennen, wie wichtig es ist, Mercte zu ehren. Wenn man sie aus Neugier heraus fragt, ob sie sich ein Leben ohne Mercte vorstellen könnten, wenden sie sich beleidigt ab, fauchen, dass dergleichen niemals möglich sei.

Ich kann es einfach nicht mehr hören! Das Leben scheint eine Ansammlung von Märkten zu sein. Wir leben nicht mehr auf Erden, wir leben in Märkten. Einen Meister Eckhart bräucht es! Ohne mich ist kein Gott, meinte der - ohne mich ist kein Markt, sollte man mal dreist behaupten. Was wäre mein Gott ohne mich, fragte der - was wäre Mercte ohne mich, trau dich mal zu fragen! Vorwurf der Ketzerei, hieß es damals - Vorwurf der Sozialromantik und der Träumerei, nennt man es heute. Wollen wir das, dass man uns zuscheißt mit Marktgeschwätz? Wollen wir ständig nur über Märkte hören, die wir bedienen müssten? Ist das das Leben auf Erden geworden? Ein Leben im Markt? Stets marktkompatibel sein - die Märkte sollen schließlich williges Frischfleisch bekommen. Marktlehre in Schulen, die Wirtschafts- und Soziallehre ersetzen soll, wie es einige geschmierte Volkswirtschaftler und einige Betriebswirtschaftler, die die Volkswirtschaftslehre vergewaltigen, immer mal wieder als Tagesordnungspunkt anbringen? Damit am Ende aus Märkte doch noch Mercte wird? Du bist nichts, Mercte ist alles?

Der Markt meiner Erträglichkeit, der Markt meiner Geduld, der Markt meiner Zumutbarkeit... meine Märkte sind gesättigt. Ich brauche diesen neuen Gott nicht - ich habe mich doch erst vor einigen Jahren von diesem alten gelöst. Muß man sich denn dauernd gegen Götzendienerei zur Wehr setzen? Ich gehe nicht zum Gottesdienst, aber schalte ich den Fernseher ein, so vernehme ich doch Predigten. Die stehen dann in ihren Kathedralen, gaffen auf Graphen, beschwören die Linien, die möglichst steigen sollen und bringen den Märkten ihre Opfer dar. Religion, die durch Religion ersetzt wurde. Zurück zum Naturvolk, das den bösen Geist besänftigt - Naturreligion im künstlichen Umfeld, in künstlicher Unnatürlichkeit.

Verwunderlich, wenn man Markt schreibt, wo Mark stehen soll? Man muß dafür nicht auf die Couch, um das Geheimnis dieses freudschen Verschreibers zu entlüften. In einer Marktwelt löst das Tippen von M-A-R-K einen pawloschen Reflex aus. Das T juckt dann - das geschieht unbewusst. Und dann steht da, ehe man sich versieht: Markt! Ich habe mich also nicht mal verschrieben, ich bin vielmehr durch Marktschreiereien determiniert...


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