Der Linke, der zu RTL ging und verschwand

oder Wallraff ist nun ein Heiliger.
Wahrscheinlich ist auch Wallraff neuestes Buch über die Lastenträger dieser Gesellschaft lesenswert. Das ist gar keine Frage. Aber ob sein neuester Kompagnon und Haussender viel Freude daran haben wird, bleibt abzuwarten.
Der Linke, der zu RTL ging und verschwandIch sah Günter Wallraff vor einigen Tagen als RTL-Spendensammler. Er hatte ein Kind auf dem Arm und guckte betroffen in die Kamera. Im Hintergrund lief eine herzergreifende Melodie und der gute Mann nuschelte etwas davon, dass man geben solle. Dietmar Schönherr hat mal gesagt: »Wer etwas gegen den Hunger in der Welt tut, ist ein Heiliger. Wer aber fragt, woher der Hunger kommt, und wer ihn verschuldet, der wird sofort verfemt als Kommunist.« An diese Aussage dachte ich, als ich Wallraff da sah. Wallraff ist jetzt zum Heiligen aufgestiegen, denn er lindert nur noch. Das ist ehrenvoll, ganz klar. Aber das ist doch nicht alles. Früher fragte er nach dem Warum. Heute nimmt er es hin und sammelt Spenden ein. Was ist aus dieser »linken Autorität« nur geworden?, fragte ich mich traurig.

Die Mitleidsindustrie hatte er bis vor einigen Jahren nicht nötig. Er half auf seine Weise. Für ihn schien die Linderung von Not durch Galas und Spendenmarathons gar keine Option zu sein. Er ging dorthin, wo es wehtat. In den Sumpf. Filmte ab, schrieb dazu die Erlebnisse auf, konfrontierte den Zuseher oder Leser aber nie mit einer billigen Masche der Mitleidserzeugung. Er legte nüchterne Berichte vor. Ohne emotionale Unterspieler. Wer Empathie hatte, der fühlte auch ohne den Zeigefinger mit. Einfühlungsvermögen braucht keine Schildchen, die man in die Not pinnt, und auf denen steht »Achtung: Das hier ist ungerecht!« Wallraff bediente ein solches Publikum, das Berichte forderte, um den eigenen Gerechtigkeitssinn ohne Anweisung einer Regie oder eine empörten Stimme aus dem Off daran arbeiten zu lassen.
»Team Wallraff« sieht auf den ersten Blick ganz ähnlich aus, wie all die Dokumentationen, die Wallraff früher gemacht hat. Aber der Bericht als Grundlage ist zugunsten einer emotionalen Aufbereitung von Themen verschwunden, die man besser nüchtern und ohne effektheischenden Firlefanz zu sich nimmt. Ständig hat man beim RTL-Wallraff das Gefühl, er und seine Redaktion wollen die Gefühsbetonung so setzen, dass der Zuschauer gar nicht mehr selbst entscheiden darf, wann er aufschreit und wann nicht. Alles geht nach Plot, jede Wallung soll im Griff behalten werden. Wann Wut entsteht, wann Tränen rinnen, das entscheidet beim »neuen Wallraff« die RTL-Ästhetik, die Lust an der puren Gemütskontrolle. Dieser »Schönheitssinn« tilgt gemeinhin jegliche Frage nach dem Warum. Die früheren Reportagen ließen diese Frage jedoch als letzte Konsequenz zu. Statt strukturellem Verständnis kommt die moralische Keule - als ob man von Unternehmen moralische Integrität einfordern könnte.
Dass der Mann also für seinen Sendern Spendengelder für notleidenden Kinder einsammelt, passt ganz gut ins Konzept. Woher die Not kommt, ist dem Sender gemeinhin egal. Er arbeitet bieder mit an einer politischen Kultur, die Sparen und die »schwarze Null« zu einer Tugend erklärt und dabei ignoriert, dass immer weitere Not entsteht. Es ist vielleicht nicht einfach, etwas gegen den Hunger zu tun, aber was ist so schwer daran, die Strukturen, die zum Hunger führen, zu hinterfragen? Wallraffs neuer Sender tut das nicht. Er selbst daher nur sehr dezent. Die Motive dahinter verschwinden deshalb. Denn das für die prekären Stellen bei Burger King oder Zalando die Unternehmen nur bedingt verantwortlich sind, sondern viel mehr eine verkorkste Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, politisch gefördertes Lohndumping, das wird bei RTL eher nicht thematisiert. Das Moralisieren ersetzt das Begreifen, der Shitstorm die Systemkritik.
Vom Abstieg einer »linken Kapazität« will ich trotz allem (noch) nicht sprechen. Das führte zu weit. Noch legt er ja auch Finger in Wunden. Nicht bei RTL. Dort legt er sie neben Wunden. Aber diese Geschichte von Wallraff und seinem neuen Sender zeigt doch deutlich, in welche Irrungen und Wirrungen man als Linker in Zeiten geraten kann, da links zu sein außer Mode ist. Entweder man paktiert mit dem Teufel und wird für den linken Teil des Publikums unglaubwürdig. Oder man bleibt glaubwürdig und lebt als Nischensegment weiter. In einer Ära, da der Rechtsruck sich weiterhin als »neue Mitte« feiert, ist linke Massentauglichkeit eine Utopie.
»Wallraffing« oder »att wallraffa« sind in Skandinavien Schlagwörter für den Recherchestil von Günter Wallraff. Ich befürchte ein bisschen, dass man »Wallraffing« irgendwann auch mit der Haltung gleichsetzt, gewissermaßen raffgierig nach Anerkennung auf Grundlage eines breiten gesellschaftlichen Konsens zu sein. Wallraff bestätigte ja vor längerer Zeit, dass sein Gang zu RTL geschah, um anderes, auch jüngeres Publikum zu erreichen. Er sollte Publikum nicht mit dem hedonistischen Voyeurismus-Mob verwechseln, der nachmittags gescriptetes Gebrüll mit der Wirklichkeit verwechselt und abends weint, weil wieder ein Landwirt mehr seine sexuelle Unterversorgung gelindert hat. Man sollte als tendenziell seriöser Charakter den Bock nicht zum Gärtner und den Pöbel nicht zum Publikum machen wollen.
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