Ungekürze Kurzgeschichte aus dem Buch “Tiefer in die Dunkelheit. Erotik, Thrill, Horror” von Ralf Boscher.
Der Liebesbrief
Es ist dunkel geworden, ein Glas Rotwein steht neben mir, und ich bin müde. Es ist ein wohliges Müde-Sein, weiß ich doch genau, warum ich es bin, habe ich doch wegen Dir nur so wenig Schlaf bekommen. Du. Ich denke an Dich. Gerade habe ich erneut versucht, Dich anzurufen, Deine Stimme zu hören. Aber ich konnte Dich nicht erreichen, und so schreibe ich Dir wieder einmal, von Dir, von uns, horche Deiner Stimme in mir nach, lausche auf Deine Worte, Deinen Tonfall, der nach mir greifenden Händen klingt, nach Deinen Lippen auf den meinen, Deinem Körper ganz nah …, und versuche, Dich mit meinen Worten zu berühren.
Zwei Wochen sind vergangen, seitdem sich unsere Wege kreuzten, zwei Wochen, in denen ich kaum an etwas anderes denken konnte als an unsere herrliche Nacht, unsere Silvesternacht, in der wir uns gegenseitig auf den Grund gingen und tief unter der Haut spürten. Du. Ich. Wir. Unser Begehren des anderen. Unsere Lust, das Begehren des anderen zu spüren, unsere Lust, den anderen das eigene Begehren hören zu lassen. Ach Du, wie ich Dich in der Silvesternacht erleben durfte, Du, mich hingebungsvoll in Dir, in Deinem Leben willkommen heißend …
Ich habe Dich ja so etwas von begehrt. Gleich vom ersten Augenblick, als ich Dich sah. Mit einem Glas Wein in der Hand trat ich an die Tanzfläche, und da warst Du. Lächelnd im Fluss der Musik, in dem Du Dich treiben ließest. Meine Güte, Dein Lächeln. Deine Bewegungen. Ich vergaß, zu trinken, konnte nur noch schauen. Wie Du mit Deinen Händen in Deine langen Haare hinein fasstest und Deine Hüften kreisen ließest. Oh, Dein Kreisen, Dein in der Musik Fließen, ich war wie gebannt. Und dann, plötzlich, sahst Du mich an, und es gab nichts anderes mehr als Deinen Blick. Dein Blick, der sich mir näherte, denn nun kamst Du auf mich zu. Standest vor mir und griffst nach dem Weinglas. Du nahmst Dir einen Schluck und sahst mich über den Rand des Glases an. Und ich dachte nur: Was für Augen, was für wunderschöne, dunkle Augen, Augen, in denen ich versank, von denen mich nur dieser Tropfen Rotwein ablenken konnte, der auf Deinen Lippen schimmerte, schimmerte, bis Du das Glas absetztest und Du Dir diesen Tropfen lächelnd ablecktest …
„Hallo“, sagtest Du. Ich weiß nicht, was ich geantwortet habe. Wahrscheinlich habe ich gar nichts gesagt, nur gefühlt, wie Deine Hand nach der meinen griff und Du mich auf die Tanzfläche zogst. Und dann war alles nur noch Musik. Du brachtest mich zum Schwingen, und die Musik, die erklang, war: Du, Du! Du, wie Du mich ansahst, Du, wie Deine Hände, die mich nicht mehr losließen, Du, die mich ihren tanzenden Körper bis in die letzte Faser meiner selbst spüren ließ. Ich ging ganz in Deinen Bewegungen auf, zerfloss unter den Berührungen Deiner Hüften, und jedes Mal, wenn Du mich die Weichheit Deiner Haare spüren ließest, jedes Mal, wenn Du ganz nah zu mir kamst, war mir, als würde ich erzittern …
Ich habe Dich ja so etwas von begehrt, und dann geschah es. Meine Güte, Deine Lippen auf den meinen zu spüren, Deinen nach mir fassenden Mund und Deine mich suchende Zunge, Dir in die Augen zu sehen und zu sehen, wie Dein Begehren zu mir spricht … Das ging mir durch und durch. Und dann, ja, und dann …
Ich muss mir erst einmal, bevor ich weiter schreibe, ein neues Glas einschenken …
Es war herrlich, Dich mit meinen Händen ansehen zu dürfen. Die weiche und glatte Haut Deines Bauches, schön empfänglich sich im Rhythmus Deines schneller werdenden Atems anspannend und gleichzeitig entspannend unter meiner Berührung, und dann Deine Brüste – ja, Deine Brüste …
Groß und wohlgeformt hatte ich sie mir unter diesem Kleid vorgestellt, das Du in jener Silvesternacht trugst, aber als wie genau richtig groß und als wie genau richtig wohlgeformt sie sich unter meiner Berührung erweisen würden, hatte ich nicht geahnt. Im ersten Moment konnte ich es nicht fassen, ich war regelrecht überwältigt von dem Anblick, der sich meinen Händen darbot, und das auch, weil Du mir Deine Brüste so dargeboten, Dich mir so dargeboten hast: Berühre mich, erkunde mich! Dies sprach Dein Dich mir entgegenheben und meinen Händen anschmiegen. Wundervoll wohlgeformte, pralle und runde und große und vor allem zugleich weiche und feste Brüste sind Dein, lebendige und lustvolle Brüste, die von Deiner Lust sprachen und meiner Lust antworteten.
Dies war ein überwältigendes Gefühl, als meine Hände Deinen Bauch aufwärts und dann Deine Rundungen hinauf streichelten. Rundungen, die ich als vollkommen empfand, voller Wärme und Hitze, von Hingabe und Hinnahme erzählend. Sehen, anfassen, schmecken, ein Körper, um den Kopf zu verlieren. Gerade denke ich daran, wie Du Dich auf der Tanzfläche an mich geschmiegt hast, daran, was Du mir dann ins Ohr geflüstert hast …
Dein Flüstern, ja, dies begleitet mich auf so wohltuende Weise seit unserer Silvesternacht, es geht mir gleich in den Bauch und tiefer, wenn sich tiefer im Tonfall Deine Stimme an mein Ohr schmiegt …
Was Du in diesen Momenten unserer großen Nähe sagtest, das machte mich so glücklich – jetzt gieße ich mir noch ein Glas Wein ein.
Ja, der Wein, der Rotwein, den Du mich von Deinen Lippen schmecken ließest, während sich mir Deine Schenkel öffneten, nicht lange, nachdem Du mir die Worte das erste Mal ins Ohr geflüstert hast. Zu hören, dass Du es so eilig hast, mich zu spüren, hat mich sehr berührt, was fühlte ich mich von Dir gewollt und begehrt! Und dann Deine einfühlsame Weise, mit meinem Begehren umzugehen. Du wusstest genau, was ich brauche und wie. So als würdest Du meinen Körper schon seit ewigen Zeiten kennen. Wissende Hände, wissende Lippen, meine Güte, wenn ich nur daran denke … Dein mich Berühren, mein Dich Berühren. Ein Duett aus Lust. Aus Liebeslüsternheit. Ja, beides, Sanftheit und Gier. Gier und Sanftheit. Wobei ich in jenen Momenten eher der Sanfte war und Du die Gierige. Meine Wollüstige. Ich hätte so gerne mehr Zeit gehabt in jener unserer Nacht …
Stelle mir gerade vor, was wir nicht alles tun könnten … Ich knie vor Dir und tauche meine Finger in den Wein. Male meine Lust mit Wein Dir auf die Haut und dann folge ich mit meinen Lippen dieser Spur, von Deinen Lippen hinunter zu Deinem Hals, über Deine Brüste zu Deinem Bauch, von Deinem Bauchnabel über Deine Lenden hinab zu Deinen Schenkeln und weiter und weiter …
Was hätte ich nicht noch alles mit Dir erleben wollen, wenn denn nur mehr Zeit gewesen wäre, wenn es denn der Ort dafür gewesen wäre… Jetzt muss ich mir erst einmal eine Zigarette anzünden. Die Sehnsucht nach Deiner Nähe ist so stark, tut beinahe weh. Ob ich noch einmal versuchen soll, Dich anzurufen? Deine Stimme zu hören? Oh, Deine Stimme. Wie sie mir diesen einen Satz ins Ohr flüsterte … Soll ich ihn hinschreiben? Oder verfliegt dann der Zauber?
Meine mich Erregende, Du hast mein Herz verzaubert, ich komme nicht mehr los von Dir. Dabei müsste ich langsam mal schlafen. Was bin ich müde, so müde, weil ich einfach nicht anders kann, als zu versuchen, Dich zu berühren. Mit meinen Anrufen. Mit den vielen Briefen, die ich Dir in den letzten zwei Wochen schrieb. Kaum geschlafen habe in dieser Zeit, und wenn ich schlief, dann träumte mir von Dir. Sah Dich in mir, wie ich Dich an Silvester habe sehen dürfen. Sah Dich den Saum Deines Kleides heben … und ich fühlte wieder Deine Haut, dort wo sie am Zartesten ist, fühlte wieder Deine Hand, welche die meine vorbei an der Weichheit Deiner Haare führte, hinein in Deine feuchte Offenheit … So sah und spürte ich Dich im Traum, und ich sah noch mehr, sah, was noch geschehen wird. Wenn wir uns wiedersehen. Wenn Träume wahr werden.
Ich hatte schon nicht mehr geglaubt, dass es mir noch einmal passieren könnte. Und manchmal habe ich gedacht, dass es auch gut so ist. Zu oft habe ich von anderen gehört, dass es gut wäre, wenn es nicht mehr passiert. Aber da kannte ich Dich noch nicht. Ist es nicht unglaublich, wie sehr sich ein Leben innerhalb weniger Minuten ändern kann? Ich bin so glücklich, dass Du mich an die Hand genommen hast. Dort auf der Tanzfläche. Und später dann. Ich hätte es bestimmt nicht gewagt, Dich anzusprechen. Zu stark war die Erinnerung an den Schmerz, als ich das letzte Mal liebte. Zu laut waren die Stimmen der anderen in meinem Kopf: Es ist nicht gut, wenn Du liebst. Aber Dein Flüstern hat alle anderen Stimmen aus meinem Kopf vertrieben. Bis heute. Denn was Du mir auch immer in den letzten zwei Wochen am Telefon sagtest, in allem klingt für mich dieses Dein Flüstern nach.
Und das ist so gut. Denn ansonsten würde ich vielleicht denken, dass Du mich nicht mehr liebst. Denn ehrlich gesagt warst Du am Telefon manchmal nicht wirklich nett zu mir. Nein, das warst Du nicht. Aber ich bin Dir nicht böse. Ich schließe einfach meine Augen, und dann sehe ich Dich wieder so, wie Du wirklich bist, dann höre ich wieder Deine wahre Stimme. Du bist einfach verwirrt. Überwältigt von all dem, was zwischen uns geschehen ist. Brauchst einfach etwas Zeit, um es voll und ganz an Dich heranzulassen. Dich ganz einzulassen. Das verstehe ich. Heute verstehe ich das. Früher war ich anders. Aber ich habe dazu gelernt. Zwei Wochen. Und in all der Zeit habe ich der Versuchung widerstanden, mal an Deiner Tür zu klingeln. Du kannst mir glauben, das war schwer. Tag für Tag vor Deinem Haus zu stehen, Deinen Schatten hinter dem Vorhang zu sehen, und nicht der Versuchung zu erliegen … Aber Du brauchst Zeit. Ich verstehe. Ich habe es Dir vorhin am Telefon ja auch gesagt. Trotzdem könnte ich Dich jetzt schon wieder anrufen. Du hast mich einfach verzaubert. Du. Da kann ich gar nichts gegen machen. Meine Zauberfee. Wenn ich nur an Dein Lächeln denke … Dieses mich mitten ins Herz treffende Lächeln, als ich es geschafft hatte, das Kondom überzuziehen und Du Dich auf mich setztest. Als sich Deine Augen weiteten, während wir verschmolzen … Verschmelzen, ja, das taten wir in diesen Augenblicken. Ich schmolz dahin, als Du Dich vorbeugtest und mich durch den Schleier Deiner Haare Deine Brüste spüren ließest, als Deine Lippen ganz nah an mein Ohr kamen und Du es mir wieder sagtest, ein Flüstern, das mir durch alle Glieder fuhr. Dem war ich einfach hilflos ausgeliefert. Aus meinem Erzittern wurde ein Zucken. Da konnte ich gar nichts gegen machen. So wie ich jetzt nichts dagegen machen kann, dass mich die Erinnerung an Deine Stimme so nah an meinem Ohr aufwühlt. Mich Dir entgegen wachsen lässt. Ob ich Dich jetzt doch noch mal anrufen soll? Dir ins Ohr flüstern, was Du mir ins Ohr geflüstert hast? Auf der Tanzfläche, in der Toilette, in die Du mich gezogen hast, weil Du es nicht erwarten konntest, mich in Dir zu spüren. Oh, diese Toilette. Unsere Toilette. Ein Zauberort. Du. Ich. Wir. Und dann wieder Dein Zauberwort: Fick mich! Fick mich!
Wenn ich nur daran denke … Ich glaube, ich werde gleich doch zu Dir gehen. Ich möchte Dich sehen. Dich spüren. Es wieder in Deinen Augen sehen, Dich die Worte wieder sagen hören. Dich dazu bringen, mir die Worte wieder und wieder zu sagen, weil ich Dir dieses Mal länger geben werde, was Du von mir brauchst. Viel länger als während der Sekunden des Verschmelzens auf unserer Toilette. Ganz lang. Das wird vielleicht eine Überraschung, wenn ich plötzlich vor Deiner Tür stehe. Noch größer als die, da ich Dich das erste Mal anrief und Du gewahr wurdest, dass ich weiß, wo Du wohnst und wie Du heißt.
Ich finde es immer noch unglaublich, dass Du tatsächlich gedacht hast, ich würde Dich nicht wiedersehen wollen. Dass Du mir Deine Telefonnummer nicht gegeben hast, weil Du dachtest, ich würde Dich ja eh nicht anrufen wollen. Nach alldem, was wir zusammen erlebt haben. Aber glücklicherweise habe ich Dich, als Du nach dem Verlassen unserer Toilette plötzlich verschwunden warst, beim Hinausgehen aus der Diskothek entdeckt und bin Dir gefolgt. Dein Flüstern wies mir den Weg. Weißt Du, es ist einfach so: Die Liebe findet immer einen Weg. Und wenn ich erst einmal vor Dir stehen werde, dann wirst auch Du es glauben. Auch wenn Du Dich jetzt noch gegen Deine Gefühle sträubst, dann wirst Du glauben. Ich sage es Dir, früher oder später hat mir jede geglaubt.
Ende