Gegen halb zwölf kommt mein Minibus an. Wir schreiben Freitag, den 15. Juli 2010. Ich befinde mich in der alten Reichshauptstadt des einst größten Reiches in Europa, doch diese Zeiten sind schon lange vorbei. Ich bin nach langer Zeit wieder in Wien, bezog mein Zimmer im Hotel, esse noch etwas und gehe schlafen. Der kommende Tag wird lange und anstrengend werden.
Warum bin ich eigentlich wieder in Wien? Am 4. Juli ist Otto von Habsburg verstorben. Wobei: „von Habsburg“ durfte er sich hier nicht nennen – dies wird bei uns mit einer Strafe von 20.000 Kronen geahndet. Obwohl… oder besser: Da die meisten Österreicher noch kleine Monarchisten sind (ob sie es zugeben wollen oder nicht) – gibt es immer eine begründete Angst/Hoffnung, dass wir uns, wenn der alte Kaiser zurückkehrt von der Republik verabschieden würden und wieder eine Monarchie werden. Ändern würde sich wahrscheinlich nicht viel, außer, dass die Bundespräsidentenwahl wegfällt und mehr Touristen kommen. Aber wir Österreicher lieben nun einmal Wahlen (Wahlbeteiligung bei der Bundespräsidentenwahl 2011: 53,6 %) und hassen Touristen (Direkte Wertschöpfungseffekte 2009: 14,89 Mrd. €).
Otto von Habsburg war… Was war er eigentlich. Er hätte Kaiser von Österreich-Ungarn werden sollen, doch die Geschichte meinte nach dem Ersten Weltkrieg weder gut mit ihm, noch mit Österreich oder Ungarn. Doch während Österreich mit seinem Schicksal gehadert hat und Ungarn bis heute böse auf den Vertrag von Trianon ist hat Otto von Habsburg früh genug erkannt, dass die Lösung aller Streitigkeiten eine demokratische, friedliche Einigung Europas ist. Eine Bewegung, die dies forciert hat, war die Paneuropa-Union, deren Präsident Otto von Habsburg von 1973 bis 2004 war.
Wenn ich das Leben von Otto von Habsburg in einem kurzen, prägnanten Satz zusammenfasse, dann würde ich es so ausdrücken:
Er wurde geboren als der größte Österreicher – und ist gestorben als der größte Europäer.
Ich bin mit diesem Satz recht zufrieden, da „Größe“ sich hier auch deutlich von „Macht“ abhebt. Diese Größe des wahrscheinlich gigantischsten aller Europäer hat sich auch in seiner Beisetzung widergespiegelt. Mein Staunen über die internationalen Gäste kannte kaum Grenzen. Aber dazu später. Meine Erzählung setzt etwas später an, als die eigentliche Geschichte.
Die Habsburger, ihren Bürgern etwas früher als die meisten Herrschaftshäuser in Europa dieselben Rechte zugestanden haben gaben auch den Juden des Reiches die Möglichkeit sich zu entfalten. Im österreichischen Parlament findet sich bis heute eine Aufstellung der jüdischen Parlamentarier von 1914. Danken tun es ihnen die Israeliten bis heute. Vor dem offiziellen Requiem im Stephansdom fand im Stadttempel von Wien ein Kaddischgebet (Totengebet) für Otto von Habsburg im engeren Familienkreis statt. Am Donnerstag verlas auch der Großmufti von Bosnien-Herzegowina, Reis-ul-Ulema Mustafa Cerić ein muslimisches Totengebet.
Ich erreichte den Stephansdom etwa kurz vor 11 Uhr. Zuvor hatte ich bei der Paneuropa Bewegung nach Karten für einem Stehplatz gefragt, den ich mir jetzt abholen sollte. Wegen des Getümmels stellte sich dies etwas schwieriger als angenommen heraus, doch mit der Hilfe zweier Deutscher, die denselben Weg hatten, kam ich zu den Objekten meiner Begierde.
Einlass ist zwischen 13 und 14 Uhr meinte die freundliche Dame am Tresen, anfangen sollte der Trauergottesdienst um 15:00.
Bis dahin ging alles recht hitzig – aber sehr gut organisiert zu. Von den hinteren Stehplätzen konnte ich zwar nicht allzu viel sehen, jedoch war mein Stativ Goldes Wert.
Während vorm Dom zu St. Stephan Touristen und Schaulustige die Zeremonie auf einem riesigen Bildschirm mitverfolgten stand ich gemeinsam mit vielen anderen selbstgeladenen Gästen im Eingangsbereich des Domes und sah die Flaggen und Standarten von Traditionsvereinen, Burschenschaften, Gesandten der ehemaligen Kronländern und vielen Anderen vor dem Eingang stehen.
Schaulustige bei der Prozession
Stehen musste auch ich währen der ganzen Zeremonie. Einige intelligentere Damen, die schnell genug für die erste Reihe waren hatten einen Anglersessel mitgenommen, auf dem es sich bequem sitzen ließ. Andere ältere Damen, die nicht über solche Werkzeuge verfügt hatten, wurden von den Organisatoren eingeladen mit nach vorne zu den Sitzreihen zu kommen, damit sie nicht stehen müssten. Meiner Meinung nach ein ausgesprochen höflicher Akt, der dem Begräbnis einen gewissen altösterreichischen Anstand gab. An den freundlichen Fotografen, der extra aus Polen angereist ist, hatte man dann allerdings nicht gedacht. Verschwitzt waren wir aufgrund der großen Hitze an diesem Tag alle etwas – also fürchte ich, dass ich wahrscheinlich trotz dessen zu fit gewirkt hatte, mich „Upgraden“ zu lassen.
Priestermangel in Österreich - nicht hier
Es folgten die üblichen Bestandteile eines Requiems, wobei mir einiges auffiel. Zuallererst: Wie viele Kleriker sind für den Ablauf einer solchen Feier nötig? Ich kann mir die Antwort von Kardinal Christoph Schönborn schon vorstellen: „Genug ist niemals genug“. So marschierte zu Beginn eine ganze Armada von Pfarrern, Bischöfen und allen anderen Arten von Klerikern, die sich gerade finden ließen in den Dom. Wo der berüchtigte österreichische Priestermangel war, konnte ich nicht feststellen – vielleicht blieb er heute einfach fern.
Wenn die Kirche zum Ofen wird, ist Wasser nie ein Fehler
Die schon zuvor erwähnte Hitze machte relativ vielen Anwesenden zu schaffen. Man kleidete sich schließlich entsprechend dem Anlass – und entsprechend der Hitze verwandelte sich das sonst so kühle Gemäuer um uns herum in einen Ofen und wir in den Anzügen in die zu bratenden Vögel. Doch – da Otto von Habsburg auch ein hohes Tier bei dem souveränen Malteserorden war, brachte ebendieser den Trauernden Wasser.
Hostien gab es zur Genüge - nur die Verteiler waren nicht strategisch platziert
Das „Brot“ kam in Form des Leibes Christi, doch schien man vorne zu viele und hinten zu wenige Pfarrer zu haben. Ich fand den Priester, der für uns zuständig war recht interessant – er hatte es nicht sonderlich einfach. Nur zwei Hände, aber viele Gläubige. Als ihm die Hostien ausgingen kam ihm glücklicherweise jemand zuhilfe.
Ich sah schon im „Programm“, dass am Ende noch die Volkshymne – „Gott erhalte, Gott beschütze“ – die alte kaiserliche Hymne Österreichs gespielt werden sollte. Wann ich diese zum ersten Mal gehört hatte weiß ich nicht. Zumindest habe ich sie zuvor noch nie bewusst mitbekommen. Das einzige, woran ich mich erinnere ist, dass mein Opa mir einmal erzählt hat, dass die Deutschen angeblich die Melodie unserer alten Hymne übernommen hätten, aber das liegt schon lange zurück…
Jetzt stand ich also im Stephansdom und der Kardinal, den ich aufgrund der Menschenmenge nicht einmal sehen kann kündigte – meiner Meinung nach etwas widerwillig – an, dass wir jetzt nur die erste Strophe singen würden. Fast kam es mir so vor, als hätte er bewusst darauf hingewiesen. Als wäre da eine Urangst, dieses alte Lied könnte in den Anwesenden irgendetwas bewirken, was nicht vorherzusehen war. Dies machte mich nur umso neugieriger.
Die Orgel stimmte an.
Ich kannte den Text nicht. Als einer, der in einer der vielen „Generationen Land der Berge“ aufgewachsen ist hatte ich mit den Liedern der Vergangenheit nicht viel zu tun. „Land der Berge“ war eine Art Identifikation mit Österreich. Auch, wenn sich jetzt das halbe Land zerreißen will, weil es nicht nur „große Söhne“ gibt, sondern auch „große Töchter“, die jedoch nicht erwähnt würden. Diese zwangsläufige Gleichstellung zerstör…
„Gott erhalte, Gott beschütze
Unsern Kaiser, unser Land!
Mächtig durch des Glaubens Stütze
Führt er uns mit weiser Hand!
Lasst uns seiner Väter Krone
Schirmen wider jeden Feind:
Innig bleibt mit Habsburgs Throne
Österreichs Geschick vereint.“
Ich habe geweint.
Nach dem Hören dieser einen Strophe wusste ich, warum sie nicht mehr gespielt wird und warum wir sie ausgetauscht hatten. Es ist eines großen Kaiserreiches würdig und würde uns vielleicht nur in irgendwelche Träumereien abdriften lassen. Über Königreiche, die nicht mehr existieren oder Gedanken, die bereits gestorben sind.
Doch – sie würde uns unsere alte Identität bestätigen. Wir wären nicht das kleine Land unterhalb von Deutschland mit den Bergen und dem Strom. Wir wären das Land, das sich seiner Geschichte bewusst ist, vielleicht etwas ewiggestrig – aber vielleicht auch seiner Chance bewusst, die wir durch ebendiese Geschichte haben. Wir sind keine Deutschen mit eigenem Staat, wir sind eines der vielen Völkern – die einst durch Kaiser und Land vereint – die in Europa leben. Wir sind Europäer.
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