Der lebensmüde Marienkäfer

In einem lieblichen und hellen Birkenwald lag einst ein kleiner Teich. Übersät von duftenden Seerosen plätscherte er tagaus, tagein seine zarte Wassermusik und erfreute mit seiner gemütlichen Ruhe sämtliche Bewohner rund um das Ufer. Die Tiere kamen gerne an seinen Saum, nicht nur um zu trinken, sondern um die glitzernden Spiele von Licht und Schatten auf seiner Oberfläche zu bewundern. Besonders, wenn die Wolken am tiefkönigsblauen Himmel vorüberzogen und sich zwischen den Seerosen spiegelten, wurde das Wunderbare und Geheimnisvolle des Gewässers deutlich sichtbar.

Menschen verirrten sich beinahe nie an diesen zauberhaften Ort, worüber die Tiere und die Pflanzen sehr erfreut waren. So konnten sie unter sich sein und brauchten keine Angst zu haben. Vor allem die Pilze betonten immer wieder, wie glücklich sie wären, nicht ständig Familienmitglieder durch schnödes Ausreißen zu verlieren! Und auch die Walderdbeeren, denen eine Fee einmal gebeichtet hatte, sie nasche gelegentlich von ihnen, waren vor den Raubzügen gieriger Zweibeiner sicher. Viele bunte Vögel wohnten in den höchsten Kronen der Bäume, ihr fröhlicher Gesang hallte vom frühsten Frühjahr bis in den Herbst durch die Fluren. Gerne berichteten sie ihren Mitbewohnern von ihren Ausflügen in nahe gelegene Ortschaften und was sie dort Seltsames gesehen und gehört hatten. Skurriles und Merkwürdiges kam auf diesem Wege an die Ohren der Rehe, Hasen, Mäuse und Füchse, dass sie sich oft vor Lachen die Bäuche hielten. So blieben sie unter sich, hatten ein friedvolles Leben und genossen jeden Tag von neuem ihre paradiesische Welt.

Bis eines Tages Maikäfer Hermann mit großem Gebrumm in rasender Geschwindigkeit von einem Feld außerhalb in das Wäldchen gebraust kam. Wie Donnerwellen vibrierten seine Flügel in der Luft, und alle liefen zusammen, um zu schauen, was wohl geschehen war. Hermann flog im Sturzflug auf den See zu, bremste scharf ab und landete unsanft, dann auf dem Rücken kugelnd im weichen Gras am Ufer. Schnell holte man die Ameisenkönigin Gunhild herbei, die für ihre Heilkunst bekannt war. In der Zwischenzeit fächelten die Bienen dem armen Tierchen Luft zu, und der Igelvater Jakob stieß den Käfer sanft mit seiner kleinen Nase wieder auf den Bauch. Mit blauem Vergissmeinnicht an den Fühlern eilte nun Gunhild mitsamt ihrer „Not-Haselnuss“ herbei, und untersuchte den schnaufenden Hermann. Zum Glück war nichts passiert, er hatte sich nur ein wenig mit der Geschwindigkeit übernommen und konnte durch sorgfältiges Einträufeln bester Qualitätswabe wieder vollständig hergestellt werden. Nun erzählte er aufgeregt, wie er im Garten eines Menschenhauses auf seiner Geige gefiedelt habe und dabei Zeuge eines höchst eigenartigen Vorgangs geworden sei.

Ein Kollege, der Marienkäfer Fred, ein kleines, unscheinbares Exemplar, flog seit geraumer Zeit um ein weibliches Menschenkind herum. Seine glatten und glänzenden, goldblonden Haare hatten es ihm wohl angetan und so flog er es immer und immer wieder an. Doch das kleine Mädchen hatte Angst und scheuchte ihn weg. Es schlug nach ihm, weinte, schüttelte sich, wenn er sich auf das Ärmchen setzte, rief laut nach seiner Mutter. Als diese endlich kam, sah sie den winzigen Verehrer und erklärte ihrer Tochter, dass er nicht nur ungefährlich sei, sondern dazu noch Glück bringe. Doch die Kleine wollte nichts davon wissen. Fred machte noch einen letzten Versuch, aber sie streifte ihn mit einem solch heftigen Schlag von ihrer Haut, dass er auf den Boden purzelte und um ein Haar von dem ungeschickten Kind zertreten worden wäre. Hermann half ihm auf, und versuchte ihn zu trösten, geigte ihm eine lustige Weise vor, allein es half nichts. „Ich mag nicht mehr“, seufzte Fred, „ich mache mich auf zum See und stürze mich hinein“! Mit diesen Worten faltete er seine gepunkteten Flügel auseinander und schwirrte davon. Natürlich war der viel größere Hermann schneller und raste voraus, um alle zu warnen. Sie mussten unbedingt versuchen, den dummen Jungen von seinem Vorhaben abzubringen. Da hörte man ihn auch schon summen. Und ein kleiner rotschwarzer Punkt segelte von den Bäumen herab und fiel geradewegs ins Wasser. Einige Fische tauchten auf und versuchten, ihn an Land zu bringen, doch er krabbelte so schnell er konnte, gleich wieder die Böschung hinunter und stürzte sich erneut in den Teich. Die Tiere versuchten, Sperren aufzubauen, mit ihm zu reden. Doch er fand Wege, immer wieder an das Ufer zu gelangen, um sich lebensmüde in die Tiefen zu werfen. Dieses Unterfangen, diese Unruhe führte die Schutzherrin des Wäldchens heran, Jolana, die schwarze Fee.

Sie eilte mit wehenden Gewändern herbei und fragte Gunhild, was denn bloß geschehen sei. Und sah den kleinen Kerl, wie er wieder einmal gerettet, sich in Richtung See aufmachte und beinahe schon darinnen war. Sie pflückte ihn auf, streichelte ihm über sein Panzerchen und fragte ihn, warum er für seinen Kummer keinen anderen Weg sähe, als ausgerechnet diesen. Da erzählte Fred, er habe das Mädchen mit den schönen Haaren aus einer dünnwandigen Porzellantasse trinken sehen, auf der in feinster und zartester Manier gelbe Marienkäfer aufgemalt gewesen wären. Kaum hatte er dies erblickt, war es fortan sein größter Wunsch, auch ein so schön gemalter Käfer zu sein, und er wusste, das würde nie geschehen. Jolana lächelte, dennsie hatte eine Idee. Sie nahm ihren silbernen Zauberstab und verwandelte ihn in eine wunderschöne Marienkäfertasse, aus der sie jeden Morgen ihren Kräutertee trank. Der auf diese Art und Weise unsterblich gewordene Fred war überglücklich und mit ihm alle Pflanzen und Tiere im Wunderwald.

von Viola Eigenbrodt


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