Der lange Weg der Seele

Von European-Cultural-News

Sechs dunkle Gestalten, gehüllt in schweres Tuch, an den Füßen geschnürte Stiefel, nehmen auf der Bühne ihren Platz ein. Es gibt kein Bühnenbild, das einen bestimmten Ort beschreibt, keine technisch aufwendige Projektion, die von den Schauspielerinnen ablenkt. Ihre Präsenz ist das Einzige, das zählt. Schauspiel pur ist angesagt. Theater, welches nicht nur die ProtagonistInnen, sondern auch das Publikum fordert. Durch ihren Auftritt machen sie klar, dass sie sich auf einem Marsch befinden. Dass sie einen Weg beschreiten, der ihnen aufgezwungen wurde und der definitiv ihr letzter sein wird. Abwechselnd werden sie an diesem Abend zu Wort kommen, ihre Träume, Wünsche, Hoffnungen aber auch ihre Ängste beschreiben in der sicheren Gewissheit ihres herannahenden Todes.

„Winterreise – Ein Gewaltmarsch“ im Brick 5 in Wien (Foto: Markus Kupferblum)

Franz Schubert und Franz Liszt müssen nicht vorgestellt werden. Wilhelm Müller kennen meist nur eingefleischte Schubertfans. Er schrieb in seinem Todesjahr jene Verse, die der Komponist in seiner „Winterreise“ vertonte. Schnee und Eis versinnbildlichen darin jene Kälte, der Menschen ausgesetzt sind, wenn sie ihr Liebstes verloren haben. Miklós Radnóti, der dritte Ideengeber des Abends, ist über die Grenzen Ungarns so gut wie unbekannt. Sohn jüdischer Eltern, dessen Mutter und Zwillingsbruder schon bei seiner Geburt verstarben, hinterließ er nach seinem Tod, den er auf einem Gewaltmarsch mit jüdischen Mitgefangenen im November 1944 nahe der österreichischen Grenze erlitt, ein literarisches Werk, das trotz seines geringen Umfanges beeindruckt.

„Winterreise – Ein Gewaltmarsch“, so ist die jene Produktion betitelt, die das „Ensemble Schlüterwerke“ an nur drei Abenden im Brick 5 in der Fünhausgasse in Wien aufführt. Unter der Regie von Markus Kupferblum, dem Spiritus Rector des Ensembles, versetzen zwei Sängerinnen (Ingala Fortagne und Ulla Pilz), eine Tänzerin (Katharina Weinhuber), ein Schauspieler (Béla Bufe) und zwei Schauspielerinnen (Andrea Köhler und Stephanie Schmiderer) das Publikum bei über 30 Grad Sommertemperatur in besagte eisige Gefilde. Begleitet von der jungen Pianistin Donka Angatscheva, machen sie jene seelischen Nöte bildhaft, die im Februar 1943 über Hunderttausende von jungen Menschen hereinbrachen, die in Hitlers Russland-Feldzug nach Stalingrad geschickt worden waren. Von Miklós Radnóti sind es nur kurze Textpassagen, die in diesen Abend einfließen. Sie sind einem Notizbuch entnommen, das man nach seinem Tod in seiner Jackentasche fand. Darauf hatte der das Grauen festgehalten, das er erleben musste, und das er trotz Todesgefahr dennoch bereit war, anderen Menschen schriftlich mitzuteilen. In einem kleinen Epilog von ihm macht Ulla Pilz die Szenerie klar, in der sich dieser Abend abspielt. Lebende unter Sterbenden, sich auf den Tod vorbereitende, den Tod fürchtende, sich gegen ihn auflehnende oder ihn herbeisehnende junge Soldaten in schweren Stiefeln, schwarzen Overalls und dicken Wintermänteln bestimmen einzig und allein das Bild auf der Bühne. Über weite Strecken sind ihre Gesichter hinter großen, weißen Masken verborgen, die mit einem Ausdruck von tiefer Trauer ausgestattet sind. Nur wenn sie aus dieser anonymen Masse heraustreten und zu einem sprechenden, singenden oder tanzenden Individuum werden, legen sie diese ab.

Schuberts Musik, die teils in der Originalfassung, teils in der Bearbeitung von Franz Liszt einfühlsamst von Angatscheva gespielt wird, ist an diesem Abend jedoch nicht emotionaler Hauptträger. Vielmehr gelingt Kupferblum das Kunststück, Müllers Verse auf weite Strecken ohne Musikbegleitung in ihrer Schärfe, Prägnanz, und Hoffnungslosigkeit vorzuführen. Eine Dekonstruktion, welche die Verbindung zu jenem soldatischen Grauen erst ermöglicht, das vor 70 Jahren siebenhunderttausend Männern allein in den Kämpfen um Stalingrad das Leben gekostet hat. Kupferblums Herausarbeitung der unterschiedlichen Charaktere gelingt entlang der Müllerschen Textvorgaben dennoch erstaunlich präzise. Der Träumende, Aufbegehrende, der Traurige, Sehnsuchtsvolle oder Trotzige, sie alle sind im Text des deutschen Lyrikers klar angelegt. Die bekannte musikalische Fassung Schuberts, die sich in so mitreißenden Melodien ergeht, dass viele MusikliebhaberInnen die Winterreise leicht und flockig mitsingen können, deckt jedoch normalerweise Müllers Text völlig zu. Es ist aber nicht nur dieser geniale Regieschachzug, der den Abend zu einem Gelungenen werden lässt. Einen wesentlichen Anteil daran hat vor allem das gesamte Ensemble. Sowohl am Premierenvorabend als dann auch bei der eigentlichen Uraufführung musste es sich wegen der Hitze nicht nur künstlerischen, sondern auch extremen körperlichen Herausforderungen stellen. Dass sie diese meisterten, macht klar, auf welch hohem Niveau jeder und jede Einzelne von ihnen agiert.

Herauszuheben sind dabei vor allem die beiden Sängerinnen. Die zerbrechlich wirkende Ingala Fortagne beeindruckte dabei mit ihrem Mut, ihren Sopran nicht nur kraftvoll einzusetzen. Es war gerade die zarte Brüchigkeit ihrer Stimme in vielen Passagen, die unter die Haut ging, aber auch jener hoffnungslose Schrei, den sie an das Ende des Leiermannliedes setzte, der durch Mark und Bein ging. Als ihr gesanglicher Konterpart agierte Ulla Pilz, klug von der Besetzung ausgewählt. Ihr warmer Sopran harmonierte exzellent mit jenem von Fortagne und fügte dem auditiven Geschehen trotz derselben Stimmlage eine komplett andere Klangfarbe hinzu. Wer mag, liest dies als eine jener individualistischen Gesten, die als Hauptmotiv dieses Stückes gelten können und die Kupferblum in seiner Regie interessieren. Denn trotz all des namenlosen und zahlenmäßig nicht vorstellbaren Leids ist es das Einzelschicksal, das er in dieser Produktion in den Vordergrund stellt. Die inneren Monologe, denen sich das menschliche Individuum bis ans Ende seines Lebens immer und immer wieder ausgesetzt sieht und mit welchen es besonders in Krisensituationen zu kämpfen hat, sind es, die ihn faszinieren. Damit entkräftet er auch jeden Vorwurf, die Gräuel zu vernachlässigen, die von den deutschen Soldaten während dieses Feldzugs ausgingen. „Natürlich hat es dies alles gegeben“ erklärt er in einem kurzen Interview dazu. „Das möchte ich aber nicht in den Mittelpunkt des Geschehens setzen. Vielmehr ist es die Einsamkeit, in der jeder Mensch gefangen ist und die gerade dann spürbar wird, wenn man, obwohl von Tausenden umgeben, sich dennoch nicht adäquat mitteilen kann“.

Produktionen, die real erlebtes Leid und real erlittenen Tod künstlerisch umgewandelt auf die Bühne bringen, sehen sich meist vielerlei Angriffen ausgesetzt. Eines der Hauptargumente dabei ist, dass Kunst niemals das reale Geschehen wiedergeben kann, schlimmer noch, dieses für seine eigenen Zwecke nur missbraucht. Das stimmt uneingeschränkt. Und dennoch haben Vorstellungen wie diese ihre Berechtigung – ja mehr noch – sind unabdingbar. Sie erinnern nicht nur an schier unzählbare Opfer, sondern sie verweisen zugleich in unbestimmt Zukünftiges, das von uns noch gestaltet werden kann und für das wir selbst die Verantwortung zu übernehmen haben. Dass dabei gerade jetzt auch eine ungarische Stimme dazu beiträgt, mag zwar Zufall sein, sollte jedoch auch dazu führen, die aktuelle Lage in unserem Nachbarland beständig zu verfolgen und Menschen, die unserer Hilfe bedürfen, im gegebenen Fall nicht gleichgültig gegenüberzustehen. Eine ausgestreckte Hand oder auch eine Wortmeldung, in der der Wert jedes einzelnen Humanums explizit betont wird, kann Wunder wirken.

Die schwarzen Gestalten machen sich am Ende des Stückes daran, die Bühne wieder zu verlassen. Langsamen Schrittes sind sie dabei, den Weg nach draußen zu beschreiten. „Der lange Weg der Seele“, wie die charakterliche Reifung eines Menschen zuvor lyrisch ausgedrückt wurde, scheint beschritten. Umso mehr schmerzt das abrupte Ende im vollkommenen Dunkel, in dem nicht einmal mehr ein Herzschlag zu hören ist, denn es gibt kein Herz mehr, das schlägt. Für einen kurzen Moment ist man auf sich selbst zurückgeworfen und im Dunkel ganz alleine mit sich, seinem eigenen inneren Dialog und seinem Unbehagen. Dann endlich setzt er ein, der wohlverdiente und lang anhaltende Schlussapplaus, nach welchem man zurück in die tröstenden und ableckenden Arme der „Besuchermasse“ kehren darf.

Links:
Schlüterwerke
Brick5
Miklós Radnóti

Das Ensemble Schlüterwerke spielt nach dem Prinzip „pay as you can“, da ihm keinerlei öffentliche finanzielle Mittel genehmigt wurden. Die künstlerische Eiszeit, hervorgerufen durch rigide Sparmaßnahmen, ist in Österreich angekommen. Ich habe vor einigen Jahren diesbezüglich schon einen Text geschrieben. Eine Brandschrift wider Kürzungen in den Kulturbudgets