Der kurioseste Klassiker – die Carmina burana

Der kurioseste Klassiker  – die Carmina burana

Michel Capperon (c) ONR


Nur 6 Tage liegen zwischen den beiden Uraufführungen von Alban Bergs Lulu und Carl Orffs Carmina burana. Beide Werke kamen im Juni 1937 das erste Mal auf die Bühne und dennoch trennen die zeitlich so eng nebeneinander entstandenen Stücke musikalische Welten. Auf der einen Seite Bergs hochartifizielle Zwölftontechnik und auf der anderen Seite Orffs zu Ohren und Herzen gehende, beinahe schon kuriose Klangwelt, zusammengesetzt aus den Bausteinen: packende Rhythmik, einfache Melodieführung und effektvoll eingesetzte Solo- oder Chorpartien. Beide Werke sind nach wie vor alljährlich auf vielen Spielplänen zu finden, wobei Alban Berg noch im Nachhinein der Neid fräße, wüsste er, welche Popularität Orffs Werk im letzten Jahrhundert bis auf den heutigen Tag erlangte. Ein einfacher, ja geradezu trivialer Indikator gibt darüber Auskunft, ob es ein Werk er E-Musik geschafft hat, in den Olymp der Konsumgesellschaftsohren aufgenommen zu werden: nämlich die Verwendung der Melodie in Film, Funk und Fernsehen, um es mit leicht antiquierten Worten auszudrücken. Und da sticht die Carmina burana so ziemlich alles, was als auditive Untermalung für die Anpreisung von Schokoriegeln, Nutzfahrzeugen oder begleitend zum Auftritt von Pop- und Sportsgrößen auf verschiedenen Bühnen dieser Welt verwendet wird. Allein die englischsprachige Wikipediaausgabe zitiert 50 bislang bekannte Verwendungen des Eingangshymnus „O fortuna“ abseits der Konzertbühne – eine nach wie vor wunderbare Einnahmequelle für Orffs Erben und seinen Verlag.

In Straßburg gelangte das laut Schott-Verlag meist aufgeführte Werk des 20. Jahrhunderts am 26. Juni konzertant in der Opéra national du Rhin zur Aufführung. Konzertant, in der Fassung für zwei Klaviere und Percussion, jedoch mit der Ergänzung einer kleinen Lichtshow. Diese gliederte optisch die drei großen Erzählstränge des Werkes. Grün herrschte im ersten Teil vor, der dem Frühling und der Natur gewidmet ist, Rot im zweiten Teil, in dem die derben Freuden des Lebens in einer Taverne besungen werden und Blau im dritten Teil, in dem der Liebe in vielen Facetten gehuldigt wird. Michel Capperon, der die musikalische Leitung inne hatte ließ im Eingangsteil, in welchem der Wankelmut Fortunas beschworen wird, in den Forte-Passagen die Zügel leicht durchhängen und alle Interpretinnen und Interpreten im Tempo hörbar leicht angaloppieren. Dass dies jedoch ein bewusstes Stilmittel war, wurde erst am Ende des Abends klar, als Fortuna zum zweiten Mal der streng angelegten Metrik ein Schnäppchen schlug. Der Opernchor und der Kinderchor, der sich „petits chanteurs de Strasbourg“ nennt – also die kleinen Straßburger Sänger, präsentierten sich in noblem Schwarz, wie auch die Solisten. Dilan Ayata, die mit ihrem klaren Sopran der Liebenden in ihrem letzten Auftritt eine opernhafte Attitüde verlieh, Xin Wang, der als gerösteter Schwan herzerbarmend jamamerte und – ganz toter Schwan gemäß – ohne jegliche Emotion agierte und Jean-Gabriel Saint-Martin, der seinen Bariton zwischen voluminöser Kraft und lyrischen Höhenflügen ansiedelte, je nachdem, welche Rolle ihm das Textbuch vorlegte. Seine auch mimisch-theatralische Interpretation des wilden Säufers mit blitzenden, wilden Augen, ließ zumindest von seiner Seite aus Carl Orffs Intention erkennen. Dieser hatte ja das Werk mit Bühnenbild, opulenten Kostümen und Tänzern und Tänzerinnen angelegt gehabt. Also mit optischer Unterstützung für das Publikum.

Orffs Komposition, die zugleich dingfest und nicht wirklich fassbar erscheint, weil sie so ganz aus der Musiktradition des 20. Jahrhunderts fällt, wurde in der Interpretation in Straßburg jedoch dort besonders deutlich und schlüssig, wo der instrumentale Part sich abseits des pseudo-mittlelalterlichen Klanggutes entfaltet. Die jazzigen Anklänge, Orffs kurze Satiren, die einfache Varietémusik imitieren, die langen Passagen schon sakral anmutender Chormusik aber auch Ohrschmeichler, die Arien der italienischen Oper des 19. Jhdts. imitieren, hoben sich aufgrund der ausgezeichneten musikalischen Interpretation wunderbar vom Chorklangteppich ab. Zu verdanken war dies den „Percussionnistes“ des Straßburger Konservatoriums, die mit Präzision und Spielfreude auch feinste Nuancierungen sowohl im Tempo als auch in der Dynamik wunderbar meisterten, als auch der Chefkorrepetitorin Yolande Uytter, die neben Irène Cordelia Huberti einen der Klavierparts übernommen hatte. Ihr kraftvoller Anschlag bot einen starken Kontrast zu Hubertis Technik, deren Stärke eher in den singenden, lyrischen Passagen lag.

Die einzelnen Texte der Carmina burana hat Carl Orff aus den im Kloster Benediktbeuren gefundenen Handschriften aus dem Mittelalter entnommen, verändert und seinen Wünschen entsprechend völlig frei adaptiert. Auch sie beanspruchen somit, wie auch die Musik, keine historische Authentizität. Die allerjüngsten Sängerinnen und Sängern der „Petits chanteurs de Strasbourg“ sangen sie in bewundernswerter Art und Weise auswendig. Eine große Leistung, bedenkt man, dass wohl kaum einer von ihnen Latein oder Mittelhochdeutsch kann.

Das Phänomen Carmina burana verfehlte seine Wirkung auch in Straßburg nicht. Stürmischer, lang anhaltender Applaus, insbesondere für Yolande Uytter, ließ Michel Capperon noch einmal zum Taktstock greifen. Er belohnte das Publikum mit der letzten Wiederholung des Themas „O fortuna“.


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