Der Kopf im Rachen des Löwen

Erstellt am 19. Oktober 2011 von Michael

THE CAMERAMAN
(dt.: Der Kameramann)
USA 1928
Mit Buster Keaton, Marcelline Day, Harold Goodwin, Harry Gribbon u.a.
Regie: Edward Sedgwick
Dauer: 70 min.

Buster Keatons Filme wurden in den späten Zwanzigerjahren immer teurer und aufwendiger: Für The General liess Keaton 1927 eine echte Lok in einen Fluss stürzen, wobei eine Brücke zu Bruch ging; 1928 inszenierte er in Steamboat Bill jr. einen Wirbelsturm, der ein ganzes Dorf verwüstet. Für Keatons Produzenten Joseph M. Schenck ein ruinöses Unternehmen. Nach dem finanziellen Grossaufwand der letzten in Eigenregie produzierten Filme Keatons übergab Schenk seinen Protégé Keaton seinem Bruder, der bei MGM in der Chefetage sass. Buster Keaton war damals der erfolgreichste Filmkomödiant seiner Zeit, seine letzten Filme waren Kassenmagnete, und so rechnete MGM mit guten Einnahmen – Keaton musste finanziell nur an die Kandare genommen werden.

The Cameraman wurde ebenso erfolgreich wie Steamboat Bill jr im Jahr zuvor, bei deutlich kleinerem Budget. Mit dem Studiowechsel sah sich Keaton allerdings mit wachsenden Veränderungen konfrontiert, mit denen er nicht klar kam. Das Hauptproblem lag im Umstand, dass MGM mit Keaton einen Schauspieler engagiert hatte. Er war aber auch Regisseur, Drehbuchautor und Gagschreiber, doch für diese Posten waren bei MGM bereits besetzt. Während MGM’s Stummfilmzeit gestand man Keaton noch ein gutes Mass an Autonomie zu: The Cameraman und der Folgefilm Spite Marriage sind durchaus noch typische Keaton-Filme. Doch mit der Einführung des Sprechfilms, die MGM relativ spät vollzog, wurden der Regisseur und der Gagman Keaton sukzessive zurückgebunden.

Mit dem Erfolg des Tonfilms kamen die schlechten Dialoge. Keaton, der ein untrügliches Gespür für den sight gag besass, sah sich mit dämlichen Wortspielereien konfrontiert, welche seine neuen Bosse als Tribut an den Sprechfilm seinen Filmen aufoktroyierten.
Mit The Cameraman steckte Buster Keaton seinen Kopf in den Rachen des MGM-Löwen; er sollte später zur Gänze von ihm geschluckt werden.

The Cameraman lässt das neue Studiosystem nur an einigen wenigen Stellen durchscheinen. Etwa in den gemeinsamen Szenen Keatons mit dem MGM-Komiker Harry Gribbon, der hier einen  Polizisten verkörpert. Gribbons grobe Art der Komik ist mit jener Keatons kaum vereinbar, was ihre gemeinsamen Sequenzen wie eine Art Zukunftsvision auf kommende Unbilden (Keatons unfreiwilliges Teaming mit Jimmy Durante) aussehen lässt.
Eine Sequenz in einem Hallen-Schwimmbad sieht auch nicht nach einer Idee Keatons aus (er hasste es, in Menschenmengen zu drehen), doch was er daraus macht, ist dennoch Keaton-Pur. Wie der Rest des Werkes.

The Cameraman ist im Grunde nichts anderes, als eine nach New York transferierte, mit grandiosen Gags und Sequenzen angereicherte Variation des in den damaligen Komödien üblichen und von Keaton bevorzugten Musters “Underdog wird vom Schicksal gebeutelt, gewinnt aber dank persönlichem Engagement, Anstrengung und Aufrichtigkeit das Herz seiner Angebeteten”. In Keatons Werkkanon ragt dieser Film meines Erachtens nicht stark heraus, weniger jedenfalls als der Folgefilm Spite Marriage, in welchem er seiner Figur eine wahrhaft fatalistische Dimension verleiht, die wohl zu Keatons eigener Situation bei MGM passte (obwohl die “offizielle”, sprich filmhistorische Wahrnehmung zum genau umgekehrten Ergebnis kommt).

Buster arbeitet in den Strassen New Yorks als Tin Type-Fotograf (tin types sind das Ergebnis einer auf der Direktpositiv-Verfahren beruhrenden Fotografie, die sich damals für preiswerte Porträt-Blechplatten-Schnellfotos allgemeiner Beliebtheit erfreute). Still und heimlich bewundert er die Newsreel-Kamaramänner, denen er auf seinen täglichen Streifzügen durch die Stadt begegnet.
Eines Tages trifft er auf Sally (Marcelline Day), die als Sekretärin in der Metro-Newsabteilung arbeitet. Sie ermuntert ihn, eine Kamera zu erwerben und ihrem Boss Proben seines Könnens vorzuführen.
Nach einer Reihe von (komischen) Fehlschlägen, die seinen Nebenbuhler, den Kameramann Harold Stag, zu vernichtendem Hohn animieren, kommt es zu einem Rendez-vous mit Sally. Es endet für Buster zwar desaströs, da sich der arrogante Nebenbuhler wieder einmischt, doch Sallys Herz ist auf Busters Seite.
Durch einen Zufall gelingen Buster während einer weiteren Probeaufnahme in Chinatown sensationelle Bilder eines Clan-Krieges, der während einer von Buster dokumentierten Feier ausbricht und ganz Chinatown in einen Hexenkessel verwandelt. Nun sollte seiner Anstellung als Kameramann nichts mehr im Wege stehen. Leider fehlt die Filmrolle mit den Aufnahmen. Busters Maskottchen, ein Äffchen, das er einem Drehorgelmann abgekauft hatte, bringt zuletzt unverhofft die benötigte Hilfe.

Die Rettung von Busters Glück durch das Äffchen ist dramaturgisch besonders geschickt in den Film eingebaut. Als es nach etwa zwei Dritteln Laufzeit in die Handlung eingeführt wird und sich von da an zum ständigen Begleiter Busters entwickelt, ahnt man, dass dies nur geschieht, weil das Tier die entscheidende Wendung eines Problems am Schluss des Films herbeiführen muss. Tatsächlich ist es so; aber diese Wendung kommt derart anders als erwartet und erwächst derart logisch aus dem Wesen des Tieres, dass man als Zuschauer von der Art des Happy Ends trotzdem überrascht wird.

Solche Wendungen sind typisch für Keaton, dessen Witz sich oft um mehrere Ecken und Wendungen dreht, bis er dann treffsicher zündet und geweckte Erwartungen zwar erfüllt, aber nicht auf die erwartete Art. In The Cameraman finden sich unzählige solche Keatonesken; man kann ihn deshalb kaum von seinen früheren, unabhängig produzierten Stummfilmen unterscheiden.
Hinter der Kamera war der Unterschied sehr wohl spürbar, denn Keaton, der bis dahin ohne Drehbuch gearbeitet hatte (“wir legten den Anfang fest und den Schluss- die Mitte improvisierten wir”), musste bei MGM jeden Einfall und jede Kamerabewegung minuziös in einem Drehplan und einem Drehbuch festhalten. Nichts durfte dem Zufall überlassen werden. Das schränkte Keaton zunehmend ein und begrenzte ihn. Im Cameraman lässt er dies in nur wenigen Momenten durchblicken.

Mit dem Aufkommen des Tonfilms wurde die Arbeit bei MGM für den Selfmademan schier unerträglich. Keaton gab später zu Protokoll, man hätte ihn vor dem Wechsel gewarnt. Charlie Chaplin und Harold Lloyd hatten ihm von dem Schritt zu MGM abgeraten: “Sie werden dir alles nehmen”. Trotzdem folgte Buster dem Ruf des Löwen. “Es war wie einer dieser ungeschickten Fehltritte, die ich in meinen Filmen immer mache”, sagte er später. “Nach denen ich dann im Schlamassel stecke. Nach diesem Schritt steckte ich tief im Schlamassel!” Keaton verfiel mehr und mehr dem Alkohol.
Doch so schlecht die Tonfilme bei MGM auch sein mochten – Keaton feierte damit weiterhin grosse Publikumserfolge.

Das bringt mich zur Frage: Wie schlecht waren diese Filme wirklich? Ich kenne einige von Keatons kurzen Tonfilmkomödien, die er für Educational und Columbia drehte und die bei seinen Fans verrufen sind; ich war freudig überrascht: Ich fand in einigen von ihnen allen Unkenrufen zum Trotz immer noch viel Keaton und viel Qualität.
So fasse ich hiermit den Vorsatz, demnächst und in lockerer Folge, ein Auge auf Keatons Tonfilme zu werfen. Ich bin gespannt, zu welchen Entdeckungen dies führen wird…und werde berichten.
8/10

Die Fassung des Cameraman, die ich für diesen Text visioniert habe, erschien bei TCM Archive in der DVD-Box Buster Keaton Collection, zusammen mit Spite Marriage und Free and Easy; die Begleitmusik stammt von Arthur Barrow. Der Film war als Einzel-DVD auch im deutschsprachigen Raum erhältlich; die DVD ist allerdings vergriffen und erziehlt auf dem privaten Markt z.T. horrend hohe Preise.

http://www.amazon.com/Buster-Keaton-Collection-Cameraman-Marriage/dp/B00049QQ78/ref=sr_1_2?s=movies-tv&ie=UTF8&qid=1319028805&sr=1-2

http://www.amazon.de/Kameramann-Buster-Keaton/dp/B000FFJSZS/ref=sr_1_1?s=dvd&ie=UTF8&qid=1318952075&sr=1-1