Der Kongress taktiert

Von Eulengezwitscher @Edda_Eule

In Wien ringen 1815 der französische Außenminister Talleryrand und Österreichs Kanzler Metternich um die Neuordnung Europas...

Auftritt Talleyrand: Frankreichs Außenminister der seit frühester Jugend an einem Klumpfuß leidet,  hinkt behäbig, aber mit bedrohlich klackerndem Gehstock ins Konferenzzimmer. Dort haben die großen Vier die Köpfe zusammengesteckt: die Chefdiplomaten aus Russland, England, Preußen - und Österreichs Kanzler Metternich, der Gastgeber dieses Wiener Kongresses, der eigentlich noch gar nicht begonnen hat. Talleyrand gibt sich empört: Warum man schon geheime Vorabsprachen treffe, will er wissen? Peinlich berührtes Schweigen. Dabei stehen doch da die strahlenden Sieger am Besprechungstisch. Gerade erst hat man mit vereinten Kräften Napoleons Frankreich geschlagen. Und jetzt buckeln sie vor Talleyrand, der schon diesem Unruhestifter Europas als Minister gedient hat? Ein kurioser Auftakt der Neuordnung Europas ist das. Denn nichts weniger ist der Wiener Kongress, auf dessen diplomatischem Parkett sich manches biografische Duell entwickeln wird...

Thierry Lentz

1815

Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas

Erschienen bei Siedler im September 2014. 432 Seiten kosten in der gebundenen Ausgabe 24,99-. Euro. Leseprobe und weitere Features im Menu auf auf dem Cover (links oben).


Die Ausgangslage

Mit dem Österreicher Metternich und dem Franzosen Talleyrand stehen sich schillernde Persönlichkeiten gegenüber. Bei haben die hohe Staatskunst beim gleichen Lehrer studiert, aber Talleyrand ist etwa zwanzig Jahre älter und ungleich erfahrener: Er hat als Priester und Bischof angefangen und später für alle möglichen französischen Regierungen gearbeitet: Für die Revolution, für Napoleon und jetzt also für die Nachkriegsregierung. Metternich dreht noch seine ersten Runden auf diplomatischem Parkett, seine große Zeit als Bewahrer des monarchischen Prinzips bricht gerade erst an. Auf dem Wiener Kongress taktieren beide aus schwierigen Positionen heraus: Talleyrand hat zwar nichts zu verlieren, aber als Kriegsverlierer auch nichts zu sagen. Metternich spricht für Österreich, dessen Kaiser Jahrhunderte lang die Krone des Heiligen Römischen Reiches getragen hatten, das wiederum Napoleon zerschmettert hatte. Über Metternich baumelt das Damoklesschwert der Abberufung, Talleyrand muss die Zerstörung seines Lebenswerks fürchten: ein starkes Frankreich, an dem keine europäische Macht vorbeikommt. Erstaunlich schnell werden allerdings aus erbitterten Widersachern Zweckverbündete: Dem gerissenen Talleyrand gelingt es, die Phalanx der Sieger zu sprengen und sein Frankreich als attraktiven Bündnispartner zu präsentieren... Ist das ein Angebot, das Metternich nicht ablehnen kann?

Die Buchbesprechung

Thierry Lentz ist Franzose. Eigentlich könnte er Talleyrands Verhandlungsgeschick lustvoll ausschlachten und abfeiern. Er könnte auch die üblichen Kongress-Klischees bedienen: Dass man nur auf prunkvollen Bällen  tanzt und nicht arbeitet, ist so ein Klischee - oder dass man sich eher ins Bett einer der vielen Diplomaten-Groupies sinken lässt, als sich an den harten Besprechungstisch zu setzen. Thierry Lentz tut wenig von alledem. Sein 1815 ist frei von nationalem Nachstolz. Er lässt natürlich die Bälle, Festessen und sonstigen Vergnügungen nicht unerwähnt, setzt sie aber geschickt ins Verhältnis zum Gesamtgeschehen: Schließlich wird auch beim Dessert folgenreich taktiert. Seine Analysen des Kongressgeschehens sind nicht nur wissenschaftlich auf hohem Niveau, sie lassen auch jeden historischen Krimi alt aussehen. Denn die Interessen und Positionen der verschiedenen Mächte zu den verschiedenen Sachfragen des Kongesses werden nicht einfach nüchtern referiert, sondern durchaus anschaulich - jedenfalls spannend - berichtet. Dennoch hätten dem Buch zwei weitere Bestandteile gut getan:  Eine knappe und übersichtliche Chronik des Kongressgeschehen, die den Erzählfluss ergänzt - und ein biografisches Register der wichtigsten Protagonisten. Derer gibt es zwar nicht viele, aber es hätte sich gelohnt, die wichtigsten Diplomaten und Charaktere nochmals in wenigen Worten zu porträtieren.