Selbst der grösste Praktiker unter uns ist vom Scheitel bis zur Sohle angefüllt mit Theorien. Aber es ist keine graue Theorie, sondern eine bunte, zusammengestückelt aus den privaten Beispielfällen, die uns so über den Weg gelaufen sind. Manchmal genügen ein paar wenige Beobachtungen, und schon wissen wir, wie Asylanten, Amerikaner oder Polizisten funktionieren.
Deshalb bedeutete bei den Griechen das Wort theoria einfach Beobachtung, und das griechische Verb theorein so viel wie betrachten. Je älter ein Mensch wird, umso mehr Dinge hat er schon betrachtet. Deshalb hat er halt viel theoria gesammelt…Theorien, die natürlich nur subjektiv stimmen – denn niemand sonst hat genau dasselbe Leben gelebt und dieselben Beobachtungen gemacht. Objektiv gibt es unzählige andere Beispiele und Meinungen, und daher unzählige politische Parteien, unzählige Gesundheitslehren, Erklärungsmodelle oder Religionen…
Wenn eine ganze Gesellschaft ähnliche Beobachtungen macht, so wird man die Theorie als Gesetz formulieren. So entstanden zum Beispiel die Naturgesetze. Es ist dem Stein offenbar verboten, nach oben zu fallen, brav gehorcht er dem Gesetz der Erdanziehung.
Bei persönlichen Überzeugungen formuliert man zwar kein ausgewachsenes Gesetz, aber man sagt doch: das sollte man, jenes muss man. So hat jedermann viele Theorien darüber, wie die Welt funktioniert: ob Frauen schlecht einparken oder Männer nicht zuhören können, ob Vitamintabletten überflüssig seien oder ob man Fleisch essen sollte oder auch nicht. Manche haben mehr Beobachtungen zur Grundlage, andere weniger. Aber für das Gegenteil gäbe es durchaus mindestens ein Beispiel. Trotzdem bleiben aber die meisten Menschen ein Leben lang ihrer Überzeugung treu: der eigenen Religion, der Essgewohnheit, der politischen Partei, der Lebensphilosophie.
Warum wohl? Vielleicht, weil Theorien (selbst kaum zu belegende) Sicherheit und Geborgenheit geben. Sie geben einen das Gefühl, alles im Griff zu haben. Man kann sich entspannt zurücklehnen: man versteht es.
Jetzt rufe man sich selbst zur Abenteuerlust im Kopf auf. Es macht Lust, in seiner Gedankenwelt zum Kolumbus zu werden. Die Ränder der eigenen Erdscheibe auszuloten – und dann plötzlich merken: die Sache ist ja immer Rund.
Lasst uns einfach beschließen, die Dinge nicht mehr ganz zu glauben, die wir bislang für richtig hielten! Lassen wir einen advocatus diaboli im eigenen Kopf los.
Der Wächter / 65cm x 45cm / Acryl auf Aquarell-Papier / 2006, Nr. 06-041