Geschrieben habe ich diesen Text bereits am 19. Juni 2018. Gestorben ist Johann am 03. Februar 2019, erfahren haben wir es erst vor drei Tagen, weil er es so wollte, warum auch immer. Er ist gegangen wie er gelebt hat, auf seine eigene Weise; wenigstens friedlich eingeschlafen, sitzt er nun im kleinen Kreise der Familie auf einer Wolke, hat immer einen Schlafanzug an und frühstückt, so wie er es am liebsten hatte. Ich bin nicht gut darin meine Gefühle oder meine Trauer öffentlich auszudrücken, deshalb werde ich so wenig wie möglich kommentieren. Danke für euer Verständnis!
Der kleine Johann …
Es ist keine schöne oder rührselige Geschichte, welche ich hier erzähle, sondern die Beschreibung eines Lebens, und sie ist entsetzlich hart. An dieser Stelle sei jedem vom Lesen abgeraten, welcher keine gute seelische Verfassung hat. Aus diesem Grund schreibe ich diese Zeilen auf, bevor Johann, nun da Sie dies lesen, gestorben ist.
Ich kannte Johann seit er neun Jahre alt war. Zu dieser Zeit hatte sich sein gewalttätiger und trunksüchtiger Vater längst über alle Berge gemacht, was für die kleine Familie nicht das Schlechteste war, auch wenn dieser Unmensch nie einen Pfennig Unterhalt gezahlt hatte, aber dessen spätere Beerdigungskosten von seinen zwei Söhnen finanziert werden musste, so lautet das Gesetz, und das ist unerbittlich, so wie der Tod selbst.
Johann war kein zufriedener Mensch und ob es je eine Phase in seinem kurzen Leben gegeben hat, wo er eins mit sich und seiner Umwelt war, bezweifle ich heute stark. Als er gerade einmal 13 Jahre alt war, verstarb seine Mutter und ließ zwei junge Buben alleine in einer Welt, die wenig Erbarmen kennt und noch weniger Hilfe bietet. Als noch ebenfalls sehr junger Mensch (vom Mann war ich damals Lichtjahre entfernt) übernahmen meine Frau und ich die Verantwortung, damit die Brüder sich nicht auch noch verlören. Wahrscheinlich haben wir vieles falsch gemacht oder einfach nicht gewußt, ob psychologische Betreuung oder zumindest das eindringliche Gespräch zu suchen. Wichtig waren Schule, Ausbildung und ein geregeltes Leben. Doch so gleich die Situation für die Jungs auch war, so unterschiedlich reagierten sie in jeder Beziehung. Der Eine sah nur nach vorne, arbeitete an sich, versuchte die Vergangenheit hinter sich zu lassen und wenn er von den Schicksalsschlägen seines Lebens eingeholt wurde, machte er es mit sich ab. Und Johann?
Er schlug um sich, ob verbal oder in der Realität. War er zuvor schon darauf bedacht, die Fehler des Seins eher bei anderen zu suchen, als bei sich selbst, hatte ihm das Leben mehr als einmal bestätigt, dass es gegen ihn war. In den folgenden Jahren des erwachsen werdens schaffte es nur noch sein großer Bruder regelmäßig Kontakt zu Johann zu halten, auch auf meinen Rat, „denn Du hast nur diesen einen Bruder“, sagte ich immer wieder zu ihm, und er tat was er konnte. Mit Erfolg. Nach vielen weiteren Jahren der ununterbrochenen Suche nach Glück oder zumindest Zufriedenheit, fand er eine Partnerin und bekam mit ihr ein Kind, obwohl die Umstände nie ideal waren, aber zumindest akzeptabel. Es wurde gearbeitet, gelebt und wenn es eine Zeit in Johanns Leben gegeben hat, welche als annähernd glücklich bezeichnet werden könnte, wäre dieser Lebensabschnitt wohl nahe daran gewesen.
Als sein Knd etwa ein Jahr alt war, bemerkte Johann ein Zwicken unterhalb des linken Knies. Vielleicht eine Normalität in einem harten Handwerksberuf, welcher nichts für Schwache oder Jammerlappen war, doch stellte sich diese Unpässlichkeit als Knochentumor heraus, der den Verlust des Knies und einen Teil des Unterschenkels zur Folge hatte. Es begannen die obligatorische Chemo, Reha und der langsame Weg zurück. Planungen für ein neues, weiteres Leben wurden in Angriff genommen und endeten mit der Diagnose „Metastasen“. So oft es ging fuhr die Familie in den weit entfernten Ruhrpott und gab moralischen Beistand, während seine Ehe langsam zerbrach, warum auch immer. Nicht jeden Menschen schweißen schwere Zeiten enger an seinen Partner und als dann der Krebs den Kehlkopf erwischte und die Sprache wegfiel, die Ärzte ihn dort aufgaben, entschied sich Johann einen letzten möglichen Strohhalm zu greifen und zog zu uns nach Marburg.
Zunächst tat ihm die Veränderung gut und er machte all die Dinge, welche ihm wichtig geworden waren wie, Umwelt, Ernährung und der Kampf gegen den Krebs, diesen elend schleichenden, Moral zersetzenden Feind, welcher nur mit noch grausameren Methden besiegt werden konnte, doch eine Chemo war nicht mehr möglich, denn es gab keine Präparate mehr, welche an Johann noch nicht ausprobiert worden waren und so wurde vereist, verödet, bestrahlt und das Essen wechselte von „Allem“ zu basisch vegan und auch darüber könnte ich jetzt viel erzählen, weil wir in den gemeinsamen fast sechs Monaten eine Menge über das Blockieren von Krebszellen mittels Ernährung in Erfahrung gebracht hatten, auch wenn dies ein nicht ungefährlicher Weg ist. Trotzdem unterstützten ihn die Ärzte und seine Werte waren die eines Menschen mit einer Erkältung, obwohl er Metastasen in beiden Lungenflügeln, Leber, Nebennieren, Bauchspeicheldrüse. Rippenfell und diversen Weichteilen hatte. Geradezu verbissen versuchte er das Leben, welches seit Jahrzehnten so ein mieser Freund gewesen zu sein schien, bei sich zu halten, und fast strahlte wieder ein wenig Licht auf diesen inzwischen 41 jährigen trotzigen Jungen, und nur noch eine verspannte Hüfte hielt ihn von weiterer Gartenarbeit, Spaziergängen und dem bisschen geforderten Lebensglückes ab. Doch es waren nicht die Muskeln. Der Feind in seinem Körper hatte sich die Wirbelsäule vorgenommen und quetsche unerbittlich das Rückenmark zusammen und nur eine Not-OP rettete ihn vor der Querschnittslähmung.
Eine eigene Wohnung, leben mit der Familie, das eigene Kind aufwachsen sehen. Dies alles würde er nun tauschen müssen gegen ein Hospiz, um sich aufs Sterben vorzubereiten und so ist es nicht verwunderlich, dass dieser Mensch, der immer gegen die Windmühlen des Daseins gekämpft hatte, eines sommerlichen Morgens zu einem Termin in der Klinik nicht erschien, sondern lediglich seine Akte abgab und mit Schlafanzug und Schlappen bekleidet in den Rolli stieg und dem „Krank sein“ davon fuhr. Immerhin schaffte er 15 Kilometer, bevor ihn nachts die Polizei aufgriff und wieder zurück zum Krankenhaus fuhr, bevor er am nächsten Morgen in das angedachte Hospiz verlegt wurde. Er hätte nachdenken müssen, denn es sei ihm wahnsinnig viel im Kopf herum gegangen, hatte er gesagt.
Wie es ist einen Sterbenden zu begleiten? Bei mir persönlich waren es Phasen von hoffen, über geheuchelte Aufmunterung ohne wirklich an das gute Ende zu glauben, Hilfsbereitschaft, leugnen der eigenen Grenzen, Versagensängste und der Einsicht, dem Schicksal nie wirklich ein Schnippchen schlagen zu können. Johann war mal freundlich, mal böse, hat auf die Freundschaft eingedroschen, um zu sehen ob der Gegenüber wirklich noch hinter ihm steht, hat seine und anderer Menschen Grenzen ausgelotet, war depressiv, himmelhochjauchzend und schließlich zu tode betrübt. Der Weg von uns allen endet mit dem Tod, es ist nur die Frage, was wir auf diesem Weg machen und ob wir ihm genug Wertschätzung entgegen bringen. Ich habe daraus viel gelernt, doch härter hat es mich nicht gemacht, im Gegenteil.
Mein heutiges Zitat stammt von Marcus Aurelius (121-180) Römischer Kaiser (161-180) und Philosoph.
„Der Tod lächelt uns alle an, dass einzige was man machen kann ist zurücklächeln.“
Es grüßt Sie Ihr,
Arno von Rosen