Ob es sich wirklich mit der Resistenz des Neoliberalismus abtun läßt, dass nach und während diverser Krisen dieselben Leitbilder wie vormals vorherrschen, bleibt mehr als fraglich. Linke Positionen rumoren zwar manchmal durch die Feuilletons, aber dort, wo entschieden wird, nimmt man sich ihrer nicht mal ansatzweise an.
Ein Ascheschleier...
Michel Houellebecq berichtet im letzten Kapitel von "Karte und Gebiet" über unsere Zukunft. Er schreibt: "Seit der letzten Finanzkrise, die sehr viel schlimmer als die des Jahres 2008 gewesen war und zum Konkurs der Crédit Suisse und der Royal Bank oft Scotland geführt hatte, ganz zu schweigen von zahlreichen weniger bedeutenden Banken, waren die Bankiers gelinde gesagt ziemlich kleinlaut geworden. [...] Ganz allgemein befand man sich in einer ideologisch seltsamen Epoche, in der jeder in Westeuropa davon überzeugt zu sein schien, dass der Kapitalismus zum Scheitern verurteilt sei - und zwar sogar kurzfristig - und seine allerletzten Jahre erlebte, ohne dass es aber den ultralinken Parteien gelungen wäre, über ihre übliche Kundschaft von gehässigen Masochisten hinaus neue Anhänger zu gewinnen. Ein Ascheschleier schien sich über den Geist der Menschen gelegt zu haben."
Der Schriftsteller beschreibt hier etwas, wovon wir heute schon Notiz nehmen können. Obwohl das Scheitern des Kapitalismus und dessen radikaler Schule namens Neoliberalismus als gegeben angesehen wird, können sich linke Parteien und Absichten kaum einen Weg bahnen. Behäbig dominieren die alten Ideale und Vorstellungen weiterhin die Politik - stur werkelt die Wirtschaft nach kapitalistischen Prämissen vor sich hin, gleichwohl damit immer weniger Staat zu machen ist. Neue Konzepte, aus dem linken Lager stammende Versuche einer Neustrukturierung: Fehlanzeige. Im Gegenteil, überall in Europa gewinnen Konservative und ihre strikten Sparprogramme Wahlen. Wie ein dumpfes Grollen vernimmt man, dass da irgendwas nicht mehr stimmig ist, dass das System morsch ist und die raffgierigen Säulen, auf die das System ruht, nicht mehr haltbar. Aber es geschieht nichts.
... ist der Konsumismus
Houellebecq versteht es in seinen Büchern von jeher, die Rolle des Menschen in der Konsumlandschaft mit soziologischer Schärfe zu analysieren. Für ihn ist der moderne Mensch ein Wesen, das mit sich selbst, mit ideellem Vermögen, kaum Glücksgefühle erlangen kann - schon gar nicht in einer Gesellschaft, die sich nach materiellen Gütern reckt und streckt. Glück, oder das, was man ersatzweise als solches bezeichnen könnte, liegt im Erwerb von Gütern, im fortschrittlichen Technik-Schnickschnack begraben. Der moderne Mensch pflegt Bindungen zu Besitz und zu Dienstleistungen, die er in Anspruch nehmen kann. Bindungen zu Mitmenschen sind um so viel anstrengender. Der Mensch nach houellebecqscher Lesart, er lebt mit dem Ding, nicht mit dem Beseelten - der Nächste ist im einerlei; das Nächste kümmert ihn.
Der Warenfetisch ist es, der seit der Nachkriegszeit Besitz von der Gesellschaft ergriffen hat - der Pop als Reaktion auf konsumtive Ausrichtung des Daseins in der Welt, als ökonomischer Lebensstil ist heute allgemeingültig. Houellebecqs Figuren sind oftmals nur eine gelinde Überspitzung - sie sind ausgebrannt und hohl, gefühlskalt und seelisch verstümmelt. Die Menschen sind in Wirklichkeit natürlich nicht alle so gravierend verstört. Doch die Tendenz stimmt. Hier ist vermutlich die Ursache dafür zu suchen, weshalb trotz der Gewissheit, dass der Kapitalismus mitsamt neoliberaler Schule vor die Hunde geht, keine linken Alternativen aufgeworfen werden. Der Kapitalismus ist nicht mehr der Überbau, er wurde selbst überbaut. Der Konsumismus ist der eigentliche Lenker. Die Habgier, im wahrsten Sinne des Wortes, sie läßt über die Systematik des Anhäufens hinwegsehen. Ob nun Konsum im Kapitalismus oder sonstwo, spielt dabei keine Rolle mehr. Solange man erwerben und kaufen kann, solange die Bedürfnisse gestillt sind, ist es egal, wie man den Apparat nennt, in dem Bedürfnisstillung stattfindet.
Hoffnungslosigkeit
Houellebecqs Auslegung ist zutreffend. Das (ohnehin fiktive) Ringen im Kapitalismus zwischen rechter Auslegung, die tendenziös diktatorisch, und linker Auslegung, die tendenziös freiheitlich, manchmal tendenziös sozialistisch, verstanden werden kann, sind wertlose Scharmützel, die mit dem wirklichen Motor allen menschlichen Strebens in der westlichen Welt und den Schwellenländern, nichts mehr gemein hat. Die Menschen wollen mit Konsumartikeln versorgt sein - nicht nur mit den nötigsten Artikeln, sie sind ja keine Asketen, sondern mit allem, was der weite Kosmos des Konsums an Annehmlichkeiten bietet. Das ist keine Frage von Kapitalismus oder Kommunismus mehr - der Konsumismus hat jedes System unter sich gebracht, hat er schon seit der Nachkriegszeit, als der Funktionalismus dazu überging, die Kompliziertheiten des Lebens streng zu erleichtern und zu Konsumgut zu machen.
Geblieben ist die fehlende Umverteilung, die das Prinzip des Kapitalismus schon war. Wo über den Verhältnissen konsumiert wird, muß andernorts unter den Verhältnissen gelebt werden. Der Konsumismus ist noch weniger als der Kapitalismus auf Ausgewogenheit getrimmt. Er ist das zur allgemeinen Gesellschaftsordnung gemachte Gesicht des individuellen Egoismus. Und mangels Ansatzpunkt, da enthoben von jedem System, kaum reformierbar. Das gelänge nur durch Umerziehung, die aber nicht von der Werbeindustrie, die sich am Konsumismus mästet, initiiert werden kann - oder durch kalkulierte Mangelwirtschaft, die desaströs wäre. Diese Einsicht ist es, die Houellebecq unter anderem umtreibt - sie macht auch, dass sein gesamtes Werk von konsequenter Hoffnungslosigkeit durchdrungen ist. Auch er findet aus dem Dilemma, in das der Mensch sich geschmissen hat - jenem, ein Wesen zu werden, das Glück als Shoppingtour definiert und Zufriedenheit für eine Untugend hält, weil man sich stetig verbessern kann, auch auf konsumtiver Ebene -, keinen Ausweg.