Der Kampf um die Indoktrination unserer Kinder mit neoliberalen Gedanken nimmt an Fahrt auf

Von Hartstein

„Wirtschaftslobbyisten lassen ein Unterrichtsbuch verbieten, das ihnen zu lobbyismuskritisch ist“ – Zugegeben, diese Schlagzeile vermutet man wohl eher auf der Satireseite Postillon, doch leider handelt es sich hierbei nicht um Satire. Der Bundesverband Deutscher Arbeitgeber (BDA) hat über das Bundesinnenministerium eine Sammelpublikation der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) aus dem Verkehr ziehen lassen, da diese in den Worten des BDA ein „monströses Gesamtbild von intransparenter und eigennütziger Einflussnahme der Wirtschaft auf Politik und Schule“ transportiere. Die Publikation „Ökonomie und Gesellschaft“ richtet sich an Lehrer, die an den Schulen Wirtschaft unterrichten. Man könnte diese Aktion nun ebenfalls als monströs, intransparent und eigennützig bezeichnen und folgern, das von der Arbeitgeberlobby durchgedrückte Verbot bestätige, dass die zensierte Publikation goldrichtig liegt. Das eigentliche Problem sitzt jedoch tiefer. Schon seit vielen Jahren versuchen Lobbyisten den Kampf um die Deutungshoheit über wirtschaftliche Fragen bereits über den Schulunterricht für sich zu gewinnen. Diese Entwicklung ist mehr als besorgniserregend.

Wer die aktuelle Posse rund um die Publikation „Ökonomie und Gesellschaft“ verstehen will, der sollte auch den bildungspolitischen Kontext beachten. Der Ruf, „Wirtschaft“ solle in der Schule zu einem Pflichtfach werden, wird nun bereits seit rund zwanzig Jahren vom Bankenverband wie ein Mantra in die Öffentlichkeit getragen. Seit einigen Jahren bekommen die Banker dabei tatkräftige Unterstützung von den großen Industrie- und Arbeitgeberverbänden. Angeblich seien deutsche Schüler wirtschaftliche Analphabeten, die von der Schule nicht aufs Leben vorbereitet werden und die einfachsten volkswirtschaftlichen Zusammenhänge nicht verstehen. Ist das so?

Als ich vor vielen Jahren die Schulbank drückte, lernte ich dort sehr wohl die Grundzusammenhänge zwischen Konjunktur und Arbeitslosigkeit sowie Geldpolitik und Nachfrage. Sogar die Lehren des John Maynard Keynes kamen damals zur Sprache. Und auch die wirtschaftsliberale Indoktrination kam nicht zu kurz. So „lernten“ wir bereits damals anhand von „Börsenspielen“, die von der lokalen Sparkasse im Unterricht veranstaltet wurden, dass steigende Löhne nicht gut für unser Aktienportfolio sind. Das Fach hieß jedoch nicht „Wirtschaft“, sondern „Gemeinschaftskunde“ und unser Lehrer verstand es damals sehr gut, die unterschiedlichen Perspektiven in der Debatte darzustellen, indem er die Interessen der Arbeitgeber mit den Interessen der Arbeitnehmer und denen der Gesellschaft und Politik zusammenhängend erklärte. Hätte das Schulfach damals „Wirtschaft“ geheißen, wären diese Aspekte wohl herausgefallen. Genau das ist es dann auch, was die mächtigen Wirtschaftslobbyisten im Sinn haben.

Ein tatsächlich vorhandenes Problem im schulischen Wirtschaftsunterricht ist, dass viele Lehrer, die Wirtschaft in einem sogenannten „Fächerverbund“ (also z.B. Gemeinschaftskunde oder Sozialkunde) unterrichten, keinen fachspezifischen universitären Background haben und daher dankbar auf frei zugängliche Leitfäden und Unterrichtsmaterialien zurückgreifen. Dieses Einfallstor haben natürlich auch die Wirtschaftsverbände erkannt. So bieten beispielsweise die Lobbyorganisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft über ihr Portal „Wirtschaft und Schule“ und der Bundesverband deutscher Banken über sein Portal „Schul|Bank“ einen Rundumservice für Lehrer an. Es versteht sich von selbst, dass die Materialien dieser Portale größtenteils knallharte Propaganda der jeweiligen Verbände beinhalten. So ist den Schulmaterialien der INSM beispielsweise folgender Satz zu lesen: „In der Realität hat der Mindestlohn nur eine Folge: dass noch mehr Menschen arbeitslos werden“. Dass ist knallharte weltanschauliche Propaganda verpackt als Unterrichtsstoff.

Negativer Vorreiter in Sachen Wirtschaftslobbyismus in der Schule ist dabei das Land Baden-Württemberg. Dort wird im kommenden Schuljahr bundesweit zum ersten Mal das Fach „Wirtschaft“ zu einem Pflichtfach an allen allgemeinbildenden Schulen. Dies ist ein großer Lobbyerfolg der „Dieter von Holtzbrinck Stiftung“, die über ihre Initiative „Wirtschaft Verstehen Lernen“ dem Land eine Rundumbetreuung anbietet. Man stellt nicht nur Unterrichtsmaterial (z.B. Inhalt aus dem zum Holtzbrinck-Verlag gehörenden Handelsblatt) zur Verfügung, sondern sorgt auch gleich mit einer gestifteten Honorarprofessur an der Universität Tübingen dafür, dass die künftigen Wirtschaftslehrer marktliberal ausgebildet und indoktriniert werden. Verantwortlich für die Einführung des Pflichtfachs „Wirtschaft“ ist, wen wunder es, die grün-rote Landesregierung.

Dabei geht es wohlgemerkt nicht darum, dass die Schüler lernen, was Soll und Haben sind, wie ein Kredit funktioniert oder welche Aufgaben die EZB hat. Es geht vielmehr darum, wie diese Fragen gedeutet werden. Wer „weiß“, dass der Mindestlohn Arbeitslosigkeit befördert, wird auch keine Partei wählen, die den Mindestlohn erhöhen will. Wer „weiß“, dass der Staat einen effizienten Markt durch Regulierungen verhindert, wird Liberalisierung und Privatisierungen fordern. Und wer „weiß“, dass niedrige Zinsen die Inflation treiben, wird in den Chor derer einstimmen, die die EZB zu einer Zinserhöhung treiben wollen. Oder zugespitzt: Wer in der Schule mit neoliberaler Propaganda indoktriniert wurde, funktioniert auch im späteren Leben genau so, wie sich dies die neoliberalen Vordenker wünschen.

Sicher, auch die Gewerkschaften bieten Unterrichtsmaterialien an. Im Vergleich mit den großen Lobbyorganisationen und ihren hervorragenden Verbindungen in die Institute, Universitäten und die Politik, sind sie hier jedoch noch nicht einmal ein David, der einem übermächtigen Goliath gegenübersteht.

Vor diesem Hintergrund überrascht die Härte, mit der der BDA im Schulterschluss mit dem Bundesinnenministerium gegen die kritische Publikation der bdp vorgeht, nicht mehr. Die Wirtschaftslobbyisten haben zum Kampf um die Deutungshoheit in den Köpfen unserer Kinder geblasen. Genau die neoliberale Propaganda, die uns ja auch tagaus tagein in den Medien präsentiert wird, soll nun auch Schulstoff werden. Und da rege sich noch jemand über den Einfluss der Kirchen auf die Schulen auf.”

Quelle: http://www.nachdenkseiten.de/?p=28106