Eulengezwitscher-Extra: Die Julikrise und der Kriegsausbruch
Schuldfragen sind ewige Fragen. Das gilt auch für Frage nach der Schuld am Kriegsausbruch vor 100 Jahren. Die Historiker von heute (allen voran der viel beachtete Christopher Clark) beteuern zwar unermüdlich, dass sie lediglich die komplexen Zusammenhänge der Julikrise von 1914 erhellen wollen. Trotzdem dreht sich letzten Endes doch alles darum, wer die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts zu verantworten hat: Aus biografischer Perspektive stellt sich diese Frage etwas anders: Was waren das für Männer, die im Sommer 1914 als Hauptdarsteller eines diplomatischen Dramas die Welt in den Krieg führten? Einige dieser Männer wird ein Eulengezwitscher-Extra vorstellen: In historischer Echtzeit erzählt der Biografien-Blog zwischen dem 27. Juni und dem 3. August 2014 von Männern, die Weltkriegsgeschichte gemacht. Im Vorfeld stellt das Büchergezwitscher die Grundlagenwerke und Biografien, auf denen das bislang umfangreichste Eulengezwitscher-Extra aufbaut: Los geht's heute mit der Gesamtdarstellung von Sean McMeekin, die zu Unrecht im Schatten des monumentalen Werks "Die Schlafwandler" von Christopher Clark steht.
Sean McMeekin
Juli 1914
Der Countdown in den Krieg
Erschienen im Europa Verlag Berlin. 512 Seiten kosten in der gebundenen Ausgabe 29,99 €.
Cristopher Clark
Die Schlafwandler
Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog
Erschienen bei der Deutschen Verlags-Anstalt im September 2013. 896 Seiten kosten in der gebundenen Ausgabe 39,99 €.
Dass man im Sommer 2014 wieder über die Julikrise und die Kriegsursachen diskutieren würde, war abzusehen. Wie leidenschaftlich aber 100 Jahre nach dem diplomatischen Drama und 50 Jahre nach der Fischer-Kontroverse um die deutsche Hauptschuld wiederum gestritten wird, ist eine angenehme Überraschung - und ein Verdienst des australischen Historkers Christopher Clark, der die Debatte im vergangenen Herbst mit seiner viel beachteten Studie zu den mittelbaren und unmittelbaren Kriegsursachen angestoßen hat. Ohne die die Mitverantwortung der deutschen Führung in Zweifel zu ziehen, nimmt er auch die französischen, russischen und englischen Diplomaten in die Pflicht. Ohne die große Leistung dieses Buches zu schmälern: Mitunter verstellt es den Blick auf andere jüngst erschienene Gesamtdarstellungen zur Julikrise, so zum Beispiel die von Sean McMeekin:
Titel und Untertitel sind exzellent gewählt: Sean McMeekin verzichtet in "Juli 1914" auf weitschweifige Exkurse (anders als Christopher Clark) und konzentriert sich auf die Prozesse und Protagonisten des diplomatischen Spiels mit dem Feuer. Der Untertitel, der vom "Countdown in den Krieg" spricht, lässt einen einen fesselnd und flüssig geschriebenen Krimi erwarten - und dieser Erwartung erfüllt McMeekin vollauf. Die chronologische Darstellung ist in Sachen Julikrise die beste Wahl, da der dramaturgische Bogen durch die Abfolge der Ereignisse bereits gegeben ist. Während Christopher Clark, dessen Darststellung mehr als doppelt so viele Seiten umfasst, immer wieder weit zurückgreift und unzählige Vorgeschichten einbringt, gelingt es McMeekin besser, die Balance aus analytischer Tiefe und mitreißender Textgestaltung zu finden. Dabei verzichtet er keineswegs auf notwendige Erklärungen von historischen Zusammenhängen und auf biografische Skizzen der handelnden Persönlichkeiten. Wie sehr McMeekin um die Bedeutung der Männer weiß, über die er schreibt, zeigt sich an dem umfassenden Personenregister, mit der das Buch eröffnet. Das ist hilfreich, denn einem guten Krimi steht es schlecht zu Gesicht, wenn die Leser den Überblick verlieren - und das kann schon mal vorkommen in den komplexen Verwicklungen, durch die sich die Julikrise auszeichnet. McMeekins Personenregister beugt dem erfolgreich vor. Wünschenswert wäre allerdings auch eine entsprechende Chronik der Ereignisse gewesen, die er leider nicht mitliefert. Dafür sind die meisten 25 Kapitel an einzelnen Tagesgeschehnissen ausgerichtet, was zumindest eine gewisse zeitliche Orientierung erlaubt. Und die Schuldfrage? Auch McMeekin kommt nicht umhin, dass seine Darstellung der Julikrise Antworten auf diese Frage erahnen lässt. In diesem Punkt profitiert er von Christopher Clark. Der hatte Deutschland zumindest indirekt von der Hauptschuld freigesprochen und die Verantwortung gleichmäßiger auf die Diplomaten und Politiker aus Österreich-Ungarn, Deutschland, Russland, Frankreich und England gelegt. McMeekin kommt zu ähnlichen Ergebnissen, nimmt dabei aber vor allem die Russen und Franzosen in den Blick. Er interpretiert die frühe russische Mobilmachung (mit franzözischer Rückendeckung) als klare Entscheidung zum europäischen Krieg. Ganz abgesehen zeigt sich auch in McMeekins Deutung der Schuldfrage die besondere Verantwortung der Menschen:
Alle diese welterschütternden Ereignisse waren von Menschen verschuldet. Deshalb unterliegen sie völlig zu Recht der Beurteilung durch menschliche Maßstäbe.
Fazit: Sean McMeekins Darstellung der Julikrise von 1914 überzeugt. Im Vergleich mit den den bislang vorgelegten Werken (u. a. von Christopher Clark und Gerd Krumeich) besticht sie durch eine ausgewogene Balance von analytischer Tiefe und spannendem Erzählstil. Ohne langatmige Exkurse bleibt McMeekin bei der Sache und schreibt einen historisch fundierten Krimi über das diplomatische Drama, an dessen Ende der Weltkrieg steht.