Ich sperre die Türe zum jüdischen Friedhof auf und geleite meine Gruppe hinein. Luisa war etwas schneller als ich und ihre Teilnehmer sehen sich bereits die letzte Ruhestätte an.
„Das ist der zweite jüdische Friedhof der Stadt Oswiecim“ beginne ich „als die Nationalsozialisten 1939 hier eingefallen sind wurde er großteils zerstört, konnte aber von Überlebenden wo es ging wieder aufgebaut werden“.
Jüdische Symbolik auf Grabsteinen: Die Krone der Tora
Wir machen uns auf den Weg zu den Grabsteinen. Dort angekommen deute ich auf eine Stele, die mit einer Krone verziert ist und beginne:“Vielleicht kann sich noch jemand daran erinnern, dass wir so eine Krone zuvor auf der Torarolle gesehen haben. Im Judentum wird gelehrt, dass es drei Kronen gibt: Die Krone der Tora, die des Priestertums und die des Königtums. Wenn sich jemand im Leben die Krone der Tora durch das Studium erarbeitet hat bildet man diese gerne auch symbolisch auf seinem Gra…“
Plötzlich springt aus dem Dickicht am hinteren Teil des Friedhofs, dem sich einige Personen aus Luisas Gruppe genähert haben ein Reh hervor und fetzt wie aufgescheucht über das recht groß angelegte Gräberfeld. Wie es üblich ist, fesselt ein derartiges Erscheinen alle Blicke auf sich. Nachdem das Wildtier also eine neuerliche Runde dreht und teilweise sehr nahe bei den Besuchern vorbeihüpft legt sich kurz eine angespannte Ruhe über die Besuchergruppe. Wir gehen weiter.
Erneut deute ich auf einen Grabstein:
Der Grabstein vom Hirsch. Die Rehe sind ganz verrückt danach. Wir sollten Eintritt verlangen
„Ihr habt vorher ein Reh gesehen“ schweife auch aus. „Die kommen sehr häufig auf den Friedhof, um Kerzen für ihre verstorbenen Artgenossen anzuzünden, die hier begraben liegen. Manchmal veranstalten sie auch Gottesdienste oder hinterlassen Steine“
Die Gruppe blickt mich etwas verwirrt an. Seltsamerweise glauben sie es mir nicht, aber was würde so ein Tier sonst hier machen?
Für das Reh habe ich keine Erklärung, aber auf dem Grabstein ist deswegen ein Hirsch (für alle, die sich noch an den Film Bambi erinnern: Das Reh ist nicht die Frau vom Hirsch), weil dieser den jüdischen Stamm Naftali symbolisiert, der gerne mit einem Hirschen dargestellt wird.
Zurück im Jüdischen Zentrum ist mein Chef, der Direktor Tomek etwas überrascht. Wie kommt das Reh auf den Friedhof? Maciek, unser Bildungsbeauftragter und Webseitenadministrator meint, wir bräuchten es – so etwas kommt nicht oft vor.
Wir brauchen einen erfahrenen Schüzen – ich biete mich an, den vierhüfigen Freund zu schießen. Das sollte nicht allzu schwer werden.
Am nächsten Tag ist eine große Gruppe, die ihre eigenen Leiter hat und ich eigentlich nur die Türe aufsperren müsste. Durch die Menschen aufgescheucht sollte es spätestens dann möglich sein, meinen Auftrag zu erfüllen. Sofern ich es nicht schon alleine schaffen würde.
Wo der Friedhof nicht ummauert ist, lässt ein Gitter den Blick in eine andere Welt eindringen
Der Friedhof selbst ist ein fest ummauertes Areal, ich habe die Befürchtung, dass das Wild möglicherweise durch eine Öffnung eingedrungen ist und vielleicht auch wieder durch diese verschwunden sein könnte. Zuerst will ich herausfinden, ob es tatsächlich so eine Öffnung gibt. Bei den Front und Seitenmauern links werde ich nicht fündig. Alles massiv. Der hintere Teil des Gebietes ist recht stark bewaldet und es gelingt mir nur mit Mühen, mich durchzukämpfen. Auf leisen Sohlen marschiere ich, stets mit dem Finger am Abzug durch das
Nach dem Einmarsch 1939 wurde dieser Bunker errichtet (heute großteils verfallen)
Dickicht. Plötzlich werde ich auf den Bunker aufmerksam, der halb verfallen vor sich hingammelt. Wie weit der Betonbunker unterhalb verzweigt ist kann ich von oben schwer beurteilen und beschließe die Treppen über Schutt und Schotter hinunterzusteigen. Um ehrlich zu sein… habe ich ihn mir größer vorgestellt. Er hat ungefähr drei Kämmerchen, die großteils verfallen sind und aus dem Dritten reicht eine verrostete Leiter empor. Nein. Von hier gelangt man nicht nach draußen.
Ist warscheinlich ein Kletterreh. Seine Mutter war Steinbock.
Genauso massiv geht die Mauer auch auf den anderen Teilen des Friedhofs weiter. Vom Reh jedoch… keine Spur.
Es müsste schon ein Geisterreh sein, um da durchzukommen
Inzwischen sammeln sich die ersten Britischen Gruppen des Holocaust Education Trust und auch ihre Lehrkörper positionieren sich an verschiedenen Teilen des Grundstücks. Jetzt ist es nur eine Frage der Zeit, bis mein potentielles Opfer auftaucht. Ungewöhnlicherweise wird auch mir eine Frage gestellt… Ob der Friedhof denn noch aktiv verwendet wird. Hängt davon ab, wie man „aktiv“ definiert, aber ja, es gibt ein neues Grab – und deute auf ein Ohel, auf eine Art Gruft, die aussieht wie ein kleines Häuschen, das seit dem Jahr 2000 steht.
Plötzlich ein Geräusch, einige Menschen schrecken auf.
Es ist soweit. Die Jagd kann beginnen.
Die Jagd beginnt
Fast hatte ich befürchtet, ohne Beute heimgehen zu müssen, da ich zuvor nicht fündig wurde, jetzt weiß ich aber, dass mein Kommen nicht umsonst war und ich marschiere auf das Wäldchen zu. Die Hand – auf der Abschussvorrichtung platziert, um jederzeit das Werk zu vollenden.
Der Platz auf dem Bunker scheint mir strategisch gut gewählt. Es sind zwar recht viele Äste vor mir, aber da ich erhöht stehe, habe ich einen guten Überblick über meinen Jagdgrund. Plötzlich taucht Bambi an der rechten Seitenmauer des Friedhofs auf und rennt in Richtung der Gräber.
Ich visiere. Drücke ab. Sehe mir das Resultat an. Verfehlt.
Es ist alles andere als einfach, ein sich in Bewegung befindendes Reh zu treffen. Aber ich gebe nicht auf.
Eine der Damen marschiert durch das Dickicht und hält eine Plastikbox vor sich. „Ähäm. Kann ich Ihnen behilflich sein?“ frage ich.
„Ich suche das Reh“
„Warum?“
„In der Box sind Trauben. Ich will es füttern“
„Ähh… Okay“
Zuviel Erfolg sollte sich die werte Frau nicht erwarten. Aufgeschreckt durch eine andere Gruppe, die sich auf der anderen Seite der Friedhofsmauer bei den Gräbern ausbreitet springt mein vierbeiniger Geselle auf den Bunker zu und will anscheinend hinauf. Springt und…
Sieht mich noch rechtzeitig, bevor er mich trifft, wendet und hüpft nach Rechts weiter.
Dreimal konnte ich abdrücken. Dreimal verfehlt, bzw nicht dort getroffen, wo ich wollte.
Zu schnell... Unmöglich
Ich gebe nicht auf.
Mein taktisches Versteck wurde inzwischen nutzlos, da enttarnt.
Die meisten Gruppen verschwinden schon wieder, die tierliebe Frau geht ebenfalls unverrichteter Dinge durch das Tor.
So Bambi. Jetzt ist es Mann gegen Reh.
Bevor der Teil mit den Bäumen beginnt ist die Position ebenfalls nicht schlecht und ich lege mich auf die Lauer. Alles ist einfach zu überblicken und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich mein Begehr vor die Linse bewegt. Derzeit steht es am Tor und blickt hinaus auf die verkehrsreiche Straße. Wenn die Türe offen wäre… Bis zum nächsten Wald ist es ein weites Stück und die Gefahr überfahren zu werden ist alles Andere als gering.
Es ist soweit. Der Weg geht an der Mauer entlang bis zum Wald, wo es sich verstecken will. Die Geschwindigkeit ist konstant, der Weg begrenzt und ich habe mein Zeitfenster berechnet.
Drei.
Zwei.
Eins.
Gezielt. Geschossen. Und getroffen.
Zwei Volltreffer:
Reh und Hirsch
Stolz blicke ich auf das Display meiner Kamera. Ich weiß, dass ich der Beste bin. Wenn ich sage, dass ich ein Foto von Bambi schießen kann, dann mache ich das auch. Bevor ich mit meiner Beute abziehe nütze ich noch eine weitere Gelegenheit um abzudrücken. Es gelingt wieder.
Gezielt. Geschossen. Und Getroffen
Die Frage, wie das Reh auf den Friedhof gekommen ist, vermag ich nicht zu beantworten, aber wenn alles gut geht finden wir im Laufe der kommenden Woche wieder einen Weg, es in den Wald zurückzubringen, wo es hingehört.
Meine Waffe? Eine Nikon. D90
Maciek war vom Bild begeistert. Es ziert derzeit die Facebook-Präsenz des Auschwitz Jewish Center. Ein Reh auf einem jüdischen Friedhof sieht man auch wirklich nicht alle Tage.