Der Irrgarten. Eine Jugendgeschichte.

Neuerdings häufen sich in den Zeitungen großzügig gestaltete Inserate. Darin heißt es: “Besuchen Sie doch einmal unsere renommierte Gen-Forschungsstätte ZooLoGen mitten im Grünen! Es erwartet Sie ein pfiffiger Rundgang mit Führung auf unserem Lehrpfad.”

Neuankömmlingen weist gleich eine überdimensionale Tafel den Weg:
“Der Mensch als die Krone der Schöpfung”, heißt es da, “hat es mit den minderwertigen Viechern nicht leicht! Für eine bessere Welt benötigen wir eine besser entwickelte Fauna! Gezeichnet GENVATER ABRAM, 24. März 2033″.

Labyrinth Blankenstein

Der Irrgarten. Eine Jugendgeschichte von Rüdiger Böttcher

Das Eingangstor wird gerade von unzähligen fleißigen ROSTSCHUTZROTTWEILERN sauber geleckt. EFEUSCHLANGEN haben davon Besitz ergriffen. Sie lassen nur einige Buchstaben von einem alten, längst vergessenen Sinnspruch durchschimmern. Geschickt verhindern am Eingang zahlreiche STAUBDROSSELN, dass zu viel Staub aufgewirbelt wird! Früher erledigten ERDDROSSELN diese Aufgabe, erwiesen sich aber als untauglich, weil man ihnen das Singen nicht abgewöhnen konnte. DÜNGEFÜCHSE sorgen dafür, dass über unschöne Stellen schnell Gras wächst. Soweit, so gut!

Ein paar Sonntagsspaziergänger schlendern in Richtung Park, unter ihnen auch eine fein gekleidete, aufwendig geschminkte Dame mit ihrem Kind. Wenige Augenblicke später stolzieren die beiden bereits durch die großzügig angelegte Gartenanlage. Sie erblicken einen alten Mann mit ungepflegtem Schnauzbart, den alle nur als den “Verrückten” kennen. Der Alte – so sagt man – wird ausnahmsweise geduldet und darf hinter den Gehegen schlafen. So kommt der Querkopf den anständigen Leuten wenigstens nicht zu oft ins Gehege! Er soll einmal ein führender Gentechniker gewesen sein – wie einer Info-Tafel zu entnehmen ist -, aber dann sei er heruntergekommen”! Jetzt kümmere er sich als eine Art Hausmeister um alles, ohne allerdings dafür einen Auftrag zu haben.

Als das Kind den Alten voller Neugierde anblickt, ereifert sich seine Mutter: “Der alte Mann behauptet fest, Tiere hätten `Würde`. Dabei stand schon in der Bibel irgendwo geschrieben: ‘Machet Euch die Dingsda -’, naja …“ Mutter und Sohn gehen weiter.

Zwischen ihnen entwickelt sich ein Dialog: “Schau mal Mutti!” “Ja?” “Na, da!” “Ja, und?” “Was sind denn das für Tiere?” “Das sind URINTAUBEN, mein Schatz!” “Warum sind die denn so goldgelb?” “Na, das wird doch sicher was mit ihrem Beruf zu tun haben, nicht wahr?” “Ach so …” “Halt! Nicht anfassen! Die sind pfui! Warte noch, bis wir bei den STREICHELHÖRNCHENEINHEITEN sind!” “Warum?” “Weil es URINTAUBEN sind! Das habe ich Dir doch gerade genauestens erklärt! Igitt, ekelt es mich jetzt … lass uns gleich vorsorglich ein paar DUFTSPATZEN zerdrücken!”

Das unersättliche Nörgelkind quengelt aber immer noch weiter. Eine neue Hinweistafel, mit witzigen Illustrationen verziert, gibt ihm schließlich erschöpfende Auskunft: “Meistens trotten URINTAUBEN, wie auch FÄKALFINKEN, den tüchtigen BAUSCHUTTBERNHARDINERN hinterher. Die unendliche Dummheit von ihren tollpatschigen Vorfahren haben sie leider beibehalten! So manches unvorsichtige Exemplar wurde schon von den messerscharfen Stahlbeißerchen der zotteligen Vierbeiner zermalmt. Glücklicherweise kümmern sich dann sofort emsige BLUTELSTERN um die stinkenden Reste.”

Inzwischen nieselt es leicht. Den Spaziergängern kleben die Laubabfälle wie leere Zementsäcke an den Schuhen. Immer mehr hungrige Blätter saugen sich spürbar unter den Sohlen fest, und so manch einer hat das Gefühl, dies müsse doch etwas bedeuten! Die RAUHFASERDACKEL haben viel zu tun, da den Fußgängern jetzt jeder weitere Schritt schmerzt.

Auch auf ihrem Rückweg begegnen Mutter und Sohn dem “Verrückten”. Behutsam nimmt dieser gerade eine sterbende URINTAUBE in den Arm und versucht, ihr ein letztes Mal Geborgenheit zu geben. “Welch ein Irrsinn …”, giftet ihn die Frau an, “… ausgerechnet Du, der Du keine Würde mehr besitzt, willst ihr … ach komm weiter, Thomas! Es dämmert langsam! Wir entfernen uns von der Natur. Es reicht jetzt!” Energisch zieht sie ihren Sohn fort.

Kurze Zeit später durchschreiten beide wieder das romantische Hauptportal, und als Thomas sich ein letztes Mal umblickt, erkennt er die noch lesbaren Buchstaben am Eingang plötzlich besser: “A R B E – M A C H – F R E – “ liest er laut vor.

Dem alten Mann gelang es noch, dem Jungen einen Zettel zuzustecken. Thomas entdeckt ihn erst am nächsten Morgen beim Aufwachen und liest:

“Es dämmert uns langsam! Wir entfernen uns von der Natur. Jetzt reicht es!”

(C) 1995 Rüdiger Böttcher

Notice

Dies ist eine überarbeitete Version der erstmalig in der Jugendzeitschrift Die Glocke #2/97 (Burg Verlag, Sachsenheim, 1997) erschienenen Kurzgeschichte. Sie entstand nach einem Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau im Jahre 1995.

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