Der innere Faschismus, der sich Bahn bricht

Obdachlose in Marseille müssen ein gelbes Dreieck zur Kennzeichnung tragen. Polizisten ermorden Schwarze und verabschieden sich als freie Männer ins Wochenende. Die Versammlungsfreiheit soll in Spanien teuer werden. Bürgerwehren in vielen europäischen Ländern »kümmern« sich um Roma. Flüchtlinge liegen am tiefen Grund des Mittelmeeres und patriotische Europäer gehen intellektuell auf Grund. Waterboarding, Analfütterung und Unterkühlung simulieren Mengele und Kollegen. Und über allem steht eine Wirtschaft, die die Demokratie nach und nach als ineffiziente Plauderbude verunglimpft. Ich beginne zu glauben, dass der Faschismus kein abgelegter Begriff aus dem Geschichtsbuch mehr ist.
Der innere Faschismus, der sich Bahn brichtEr droht. Steht mal wieder stärker als gesellschaftliche Möglichkeit zwischen uns Menschen. Latent tut er es immer. Man ist als Gesellschaft nie davor gefeit. Demokratie will erkämpft sein. Nicht so, dass man alles zur Seite legt und sagt: »Es ist vollbracht!« Das Erreichte ist immer nur eine Momentaufnahme. Ist stets nur ein kurzer Augenblick, der nicht für die Ewigkeit gemacht sein muss. Das sieht man dieser Tage wieder blendend. Die westliche Wertegemeinschaft ist nicht aus dem Schneider. Sie ist gefährdet wie schon lange nicht mehr. Es läuft den Demokratien aus dem Ruder. Die Sachzwänge, die die globale Wirtschaft ihnen vorschiebt, verordnen diese Rückentwicklung quasi. Das spricht die niedersten Instinkte der Masse an.

Denn es ist keineswegs so, dass die »faschistische Tendenz« nur eine Spielart menschlicher Niedertracht ist, an der eine kleine, aus allerlei persönlichen Gründen dazu tendierende Gruppe, chronisch leidet. Die Tausenden von »patriotischen Bürgern«, die mit Neonazis marschieren, beweisen ja, dass nicht nur eine Handvoll Menschen sich dazu hingezogen fühlt. Sie ist auch nicht alleine eine Frage fehlender Moralerziehung oder mangelhafter Bildung. Gerade gebildete Leute liebäugeln ja in vielen Ausformungen mit ihr. Es werden ja wohl nicht nur Hartz-IV-Bezieher und Schulabbrecher bei Pegida mitlaufen. Wir sind mehr oder weniger alle von Denkweisen betroffen, die man als »faschistisches Grundmotiv« oder als »Einstieg in eine faschistische Grundhaltung« bezeichnen könnte. Da darf man sich nichts vormachen.
Jeder leidet darunter. Hier und dort und überall. Der erste Impuls bei zwischenmenschlichen Begegnungen kann oft verheerend sein, wenn man ihm folgt. Man sieht einen exotisch aussehenden Menschen und man kategorisiert ihn. Mancher hantiert mit Klischees. Andere halten ihren Geldbeutel fest. Dieses »Metafaschistische«, es ruht in allen. Es ist der Rohstoff für die Aufwiegler und Totalitaristen. Selbst der Aufgeklärte ist nicht immer ganz frei von diesem Urmotiv. Man kann Farbenblindheit nicht anerziehen. Innere Werte sieht man nicht. Das Aussehen ist immer unser erster Faktor. So ehrlich muss man schon sein. Man hört immer wieder, dass man eine Gesellschaft verwirklicht sehen möchte, in der man Behinderung oder Hautfarbe erst gar nicht mehr wahrnimmt. Ein schöner Gedanke, aber leider völlig weltfremd. Der Mensch ist ein Wahrnehmer. Und Wahrnehmen ist ja in Ordnung - es kommt darauf an, was man aus der Perzeption macht. Die Kunst ist es nämlich nun, sich davon nicht leiten, verführen, reizen zu lassen. Den Affekt gleich wieder in den Griff zu kriegen. Sich innerlich am Riemen zu reißen. Überdenken. Prüfen. Wenn Aufklärung überhaupt etwas bedeutet, dann das Ideal, seine kleinkarierten Ressentiments, seinen Hass, seine Vergeltungssucht, seine Rachegelüste nicht über sich siegen zu lassen. Kurz gesagt, sich dagegenzustemmen, den Faschismus in sich zu kennen und zu dressieren zu verstehen, kann als hohe Kulturleistung anerkannt werden.
Das trifft auf den Einzelnen zu. Aber natürlich auch auf die Summe aller Einzelner. Auf die Gesellschaft. Der historische Faschismus ist etwas, das nicht einfach mal in die Welt kam, sondern der war, weil es im Menschen steckte. Der Mensch kleidet sich heute anders, aber er hat sich in seiner »inneren Konstitution« nicht verändert. Der historische Faschismus bahnte sich seinen Weg, weil moralische Autoritäten und Instanzen wegbrachen, weil ein ethischer Nihilismus im Raum stand, gespeist aus dem Verlust von Milieus, Frontsoldatenerfahrungen und der Erkenntnis, dass die Ordnung des letzten Jahrhunderts endgültig flöten gegangen ist. Das dem Menschen immanente »faschistische Grundmotiv« spült sich in Zeiten der Orientierungslosigkeit an die Oberfläche. Denn Orientierung zu haben, ist auch so ein Kulturaspekt, ein künstlich geschaffenes Gerüst, das der Wut, der Rachsucht, dem Hass und der Gewaltbereitschaft nur sehr wenig Ansatzpunkte erlaubt. Wenn aber dieses Konstrukt wegfällt, nichts mehr bleibt, an dem man sich orientieren kann, alle ratlos, verirrt oder alternativlos scheinen, dann bricht durch, was in uns allen steckt.

Der innere Faschismus, der sich Bahn bricht

Quelle: Stuttmann

Stabilisatoren wie Arbeit, Wohlstand, Familienglück sind ins Wanken geraten. Nicht alle werden deswegen Wochenendrassisten. Nichts ist alternativlos. Die einen haben ihren Verein, die anderen ihre Kirche. Und wieder andere den Trost der Philosophie. Die Schriften von Kant oder Rousseau, von Marx oder Adorno, Marcuse oder Arendt, sind gewissermaßen auch Orientierungshilfen. Sie brechen einem nicht so leicht weg. Und so geben sie Stabilität. Das klingt jetzt sehr verkopft. Aber man muss ja auch nicht verlangen, dass jeder sie gelesen haben sollte. Den Geist der Humanität, den sie vermitteln, den kann man auch nachvollziehen, ohne in ihre Schriften eintauchen zu müssen. Dass es ein Zeitalter gab, in dem es auch um die Bedürfnisse der Menschen ging, hat ja auch mit ihnen zu tun. Mit dem Bewusstsein von Gesellschaft, das sie uns als Erbe hinterließen. Noch schimmert diese Humanität durch. Man hat sie noch im Kopf. Aber sie gerät in Vergessenheit. Und das, obwohl man beständig von den Werten der Europäer salbadert. Verständnis, Verstehenwollen, Empathie und Courage sind die Werte, liebe Europäer! Was habt ihr gemeint? Hexenhammer und »Deus lo vult«? Inquisition und Zigeunerjagd? Stigmatisierung und Pranger?
Der historische Faschismus speiste sich ja aus vielen dieser »althergebrachten Werte«. Und er hasste all die liberalen Werte, die die Aufklärung vertrat, weil die diese »urfaschistischen Grundpfeiler« leugnete und bekämpfte, als irrationale Affekte einer in geistiger Umnachtung und Agonie befindlichen Masse definierte. Die Aufklärer waren nur etwas zu optimistisch. Sie dachten, wenn die Menschen erst gebildet seien, dann seien diese »inneren Teufel« alleweil gebannt. Dann würden die Menschen ihre wahren Unterdrücker erkennen. Kriegt man dieses dumpfe Gefühl nicht aus den Menschen? Kanalisieren scheint man es zu können. Nicht hundertprozentig. Aber gut genug, dass es immer wieder von der Oberfläche verschwindet, keine Massenbewegung wird. Und genau die scheint sich jetzt zu formieren. Die Wut auf Sozialabbau, Lauschangriffe, Bevormundung und Überkontrolle sucht sich Opfer, die leicht zu greifen sind. Die Unterdrücker sind es im Regelfall nicht. Randgruppen schon. Sich jetzt gesellschaftlich am Riemen zu reißen, innehalten, nachdenken und dann von diesem Wahnsinn ablassen, um mit Courage gegen die auftreten, die den Laden an die Wand fahren: Leute, das ist eine Kulturleistung. Habet den Mut, ein bisschen Kultur zu leisten!
Die oben gemachten Ausführungen sind keine Entschuldigung dieser »Refaschisierung«. Nur eine Erklärung. Die Entwicklung aber ist unentschuldbar. Man wird es dieser Generation nie verzeihen, dass sie die Tendenzen nicht erkannt hat. Und das, obgleich es Präzedenzfälle in vielen Ländern gab. Aber aus der Geschichte lernt man nicht. Man vereinfacht sie, filtert einen Gedenkkult heraus und vergisst irgendwann, um was der ganze Zinnober betrieben wird. Es wird der Tag kommen, da man der Shoa gedenkt und die wenigsten wissen, was es damit auf sich hat. So wie wir heute alle geschlossen Ostern feiern und die Hälfte keine Ahnung hat, woher der Feiertag ursprünglich stammt und welche Bedeutung dahinter steckt.
Dass sie alle an Gedenken und an Rückblicken teilhaben, hin und wieder auf Ereignisse rückbesinnen, die in der Epoche des Faschismus geschehen sind, ist also kein Beweis dafür, dass faschistische Tendenzen heute ausgemerzt sind. »Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: Ich bin der Faschismus. Nein, er wird sagen: Ich bin der Antifaschismus«, soll der italienische Sozialist Silone angeblich mal bemerkt haben. Wahrscheinlich schob man ihm dieses Aperçu unter. Aber es passt so schön auf unsere Zeit.
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