„Schon vorbei. Ich habe die Stopptaste gedrückt.“
Peter rieb sich die Augen. „Du hast es selbst gesehen. Ich war nicht beteiligt. Diese Sache zwischen Mona und dem dreckigen Mexikaner lief wochenlang, monatelang. Es war völlig selbstverständlich, dass ich ausgezogen bin. Jeder hätte so gehandelt.“
„Bist du denn immer treu gewesen?“
„Ja, ich habe Mona niemals betrogen. Und weiß Gott, ich hatte Gelegenheit dazu. Es gab Frauen, die haben sich mir regelrecht an den Hals geworfen. Aber ich habe unseren Treueschwur respektiert.“
„Du warst ein paar Mal bei Prostituierten.“
Er streckte den Arm aus, als wolle er die Erinnerung abwehren. „Das kann man nicht vergleichen. Sex mit einer Hure, das ist wie zum Zahnarzt gehen oder sich die Haare schneiden lassen. Du bekommst eine Dienstleistung und bezahlst dafür. Mona dagegen ist eine gefühlsmäßige Beziehung eingegangen – auch wenn sie etwas anderes behauptet hat. Sie hat ihm sogar Geld für seine Kinder gegeben. Und zum Geburtstag hat sie ihnen ein paar Zeilen geschrieben, als die reiche Tante aus dem Norden. Ist das nicht verrückt?“
„Ich finde es nett.“
„Nein, es ist verrückt. Und es ist Betrug. Echter Betrug.“
„Also ist es ein Verbrechen, wenn Gefühle im Spiel sind? Und wenn es nur um Dienstleistungen geht, ist alles in Ordnung?“, fragte Helena nach.
„Genau. Mona hat es heimlich gemacht, immer wieder, und dann auch noch mit einem dreckigen Mexikaner. Ein Gärtner! Wenn es wenigstens jemand aus unseren Kreisen gewesen wäre, jemand mit Stil und Bildung, aber so ein…“ Peter raufte sich die Haare.
„Immerhin konntest du dich an ihm rächen. Manolo hielt sich illegal in eurem Land auf. Du hast ihn der Einwanderungsbehörde gemeldet, und er wurde ausgewiesen.“
„Ich habe mich nicht an ihm gerächt, ich habe nur dafür gesorgt, dass die Gesetze eingehalten werden.“ Er strich sich die Haare glatt.
„So? Dann war die Einleitung des Scheidungsverfahrens wohl auch nur ein rechtlicher Akt für dich?“
„Gewissermaßen, ja. Mona hat eine schwere Schuld auf sich genommen, dafür musste sie bestraft werden.“
„Und du, Peter? Warst du unschuldig bei der ganzen Sache?“
Für einen Augenblick schwieg er. Auch Helena sagte nichts. Sie wollte ihm Gelegenheit geben, noch einmal über alles nachzudenken.
„Nein, auch ich habe meinen Teil dazu beigetragen“, sagte er schließlich. „Ich habe immer viel gearbeitet in meinem Leben, vielleicht zu viel.“
Peter erinnerte sich an Tage, an denen er bei Dunkelheit aus dem Haus ging und erst zurückkam, nachdem die Sonne längst untergegangen war. Das geschah nicht nur im Winter, als die Tage kurz waren, sondern auch im Sommer, zur schönsten Zeit des Jahres. Endlos viele Stunden hatte er im Büro verbracht, vor dem Computer, in Konferenzen mit den Kollegen, bei Präsentationen, Verhandlungen, Abrechnungen, immer gab es etwas zu tun. Dabei wusste er schon damals, dass er die Tage auch hätte anders verbringen können. Mit seiner Familie, im Garten, am Strand, in den Bergen, gemeinsam spielen, wandern, schwimmen, lachen…
Mona versuchte vieles davon allein zu erledigen. Sie brachte den Kindern sogar das Schwimmen bei. Obwohl Peter das immer als seine Aufgabe angesehen hatte. Die wichtigen Dinge des Lebens wollte er den Kindern beibringen. Wo war nur die Zeit geblieben?
„Auch ich habe Schuld auf mich genommen“, sagte er. „Ich habe meine Familie vernachlässigt. Deshalb war es wohl die logische Folge, dass sich Mona nach jemand anderen umgesehen hat.“
Helena nickte „Mona hat dich gebeten, ihr zu verzeihen. Sie wollte einen Neuanfang.“
„Einen Neuanfang? Nach so einem Betrug? Ausgeschlossen. Wenn es nur dieses eine Mal gewesen wäre, hätte man es als Ausrutscher werten können. Aber sie ist immer wieder zu ihm hinüber geschlichen. Bis ich die beiden auf frischer Tat ertappt habe. Wenn Mona es mir von sich aus gesagt hätte, dann hätte ich ihr vielleicht verzeihen können. “
„Dann wäre alles anderes gekommen.“
„Egal, das ist jetzt vorbei. Ich habe mich schuldig gemacht – und ich habe meine Strafe akzeptiert.“
„So haben alle verloren.“
„Wieso? Ich war großzügig. Mona durfte das Haus behalten und hat einen Riesenbatzen Geld von mir bekommen. Sie kann sich nicht beklagen. Auch der Mexikaner nicht. Es gibt Länder auf diesem Planeten, da werden Menschen, die Ehebruch begangen haben, ausgepeitscht, manchmal sogar gesteinigt.“
„Du kannst dich aber auch nicht beklagen, Peter. Du hast schon wieder ein neues Haus, ungefähr so groß wie das alte. Und ich habe deine neue Frau gesehen. Weißt du, an wen sie mich erinnert? An Mona. Das gleiche Modell, nur zwanzig Jahre jünger.“
„Na und? Ich habe meine Schuld gesühnt. Mein Heim, meine Kinder, mein guter Ruf, alles weg… Glaub mir, das war nicht leicht für mich. Damit habe ich mir das Recht auf einen Neuanfang verdient. Ja, ich habe mir schöne Dinge gegönnt, habe eine schöne junge Frau, habe es mir gut gehen lassen. Das ist kein Verbrechen.“
Peter atmete tief durch. Er stellte sich aufrecht, streckte die Brust raus, legte die Hände an die Oberschenkel. „Ich bin jetzt bereit, Helena. Du kannst mich zu meinen Schöpfer bringen.“
„Welchen Schöpfer? Es gibt keinen Schöpfer.“
„Aber irgendjemand muss mich doch erschaffen haben. Und all das hier.“ Er zeigte auf seinen ruhenden Körper, auf die medizinischen Geräte, die Wände des Zimmers.
„Das hast du selbst geschaffen, Peter. Du bist der Schöpfer dessen, was du erlebst.“
„Und was ist mit dir? Und deinem tollen Fummel?“
Er zeigte auf Helena und ihr Kleid, das inzwischen rot leuchtete.
„Ich habe mich selbst erschaffen, und ich habe den tollen Fummel erschaffen“, erwiderte sie amüsiert.
„Aber es muss doch einen Chef geben. Einer muss an der Spitze stehen.“
„Wir sind alle der Chef. Wir stehen alle an der Spitze.“
„Dann bring mich zu Petrus. Er soll entscheiden, ob ich in den Himmel darf.“
Helena lachte. „Es gibt keinen Himmel. Und niemand steht an der Pforte und bewacht sie.“
Peter wurde ärgerlich. „Dann bring mich eben zu Allah oder Mohammed. Oder zu Buddha. Oder zu sonst wem. Ich werde nicht vor der Verantwortung zurückweichen. Ich beuge mich seinem Urteil.“
„Welchem Urteil? Peter, du bist nicht angeklagt. Also kann es auch kein Urteil geben.“
„Aber es heißt doch immer, man muss nach seinem Tod vor das Jüngste Gericht treten. Da wird dann geprüft, ob man ein gottgefälliges Leben geführt hat. Die guten Menschen kommen in den Himmel und die bösen in die Hölle.“
„Und was soll das sein, ein gottgefälliges Leben?“
„Na die Sache mit den zehn Geboten. Du weißt schon: Du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen… Das sind doch klare Anweisungen.“
„Mag sein – aber sie stammen nicht von Gott.“
„Aber selbstverständlich. Heilige Schriften gibt es in jeder Religion, in jedem Land, in jeder Kultur.“
„Und wer hat diese Schriften aufgeschrieben?“
„Keine Ahnung. Irgendwelche Leute.“
„Da hast du die Antwort: irgendwelche Leute. Sie haben die Regeln aufgestellt, nach ihren Vorstellungen.“
„Jetzt hör aber auf, Helena. Schon die ältesten Kulturen haben sich mit diesen Fragen beschäftigt. Es gibt doch diesen ägyptischen Totenkult, wonach jeder Verstorbene vor ein Gericht treten muss. Wer ein leichtes Herz hat, darf ins Jenseits eintreten. Aber wessen Herz zu schwer ist, der hat Schuld auf sich genommen, und er wird zur Strafe von einem Ungeheuer aufgefressen. Oder so ähnlich. Hab ich in der Schule gelernt. Ist aber schon lange her.“
Siebzehn Jahre. So alt war Peter, als in seinem Geschichtskurs das Thema Ägyptisches Totengericht behandelt wurde. Damit war er beinahe erwachsen, er durfte sogar schon Auto fahren. Trotzdem machten ihm die Bilder und Informationen zu schaffen. Er dachte lange darüber nach, versuchte mit Freunden darüber zu reden, träumte manchmal nachts davon. Die alten Ägypter waren eine Hochkultur, sie hatten eine eigene Schrift entwickelt, besaßen ein ausgefeiltes Staatswesen, und sie hatten die Pyramiden gebaut, diese großartigen Monumente, die Jahrtausende überdauerten. Wer all das leistete, konnte nicht dumm sein. Also musste etwas dran sein an ihren Überzeugungen, zumindest ein bisschen Wahrheit musste darin stecken. Außerdem deckte es sich zum Teil auch mit Informationen aus anderen Quellen, etwa den zehn Geboten der jüdisch-christlichen Tradition.
Das Ungeheuer nannten sie Ammit, eine Mischung aus Krokodil, Löwe und Nilpferd. Als Peter es zum ersten Mal sah, fand er es lustig, überhaupt nicht erschreckend. Es erinnerte ihn an eine Comicfigur, schön bunt und sauber gezeichnet. Aber es ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Ammit fraß die Herzen seiner Feinde. Die Informationen blieben – und sie vermischten sich mit anderen Informationen. In der Bibliothek stieß Peter auf die Göttliche Komödie, die sich leider als nicht so lustig erwies, wie er gehofft hatte. Der italienische Dichter Dante beschrieb darin in Ich-Form eine Höllenreise, wobei er nicht an schaurigen Details sparte. Die armen Sünder saßen im kochenden Blutstrom, wurden von Teufeln zerhackt oder mussten auf ewig Felsbrocken vor sich herschieben. Natürlich hätte Peter das Buch schnell wieder ins Regal stellen können, er hätte es als dummes, abergläubisches Werk eines längst verstorbenen Märchenerzählers ansehen können. Doch die Göttliche Komödie zählte zu den bedeutendsten Werken der Weltliteratur, der junge, wissbegierige Peter, der seinen Platz in der Welt selbst noch nicht gefunden hatte, musste sich unbedingt damit auseinandersetzen.
Auch an dem Sturz der rebellierenden Engel von Pieter Bruegel konnte er nicht einfach vorbeigehen, denn das Gemälde zählte zu den bedeutendsten Werken der europäischen Malerei. Eine ganze Engelsschar fiel in einen dunklen Abgrund, monströse Gestalten stiegen empor, riesenhafte Fische und Lurche, rangen mit den Verdammten, zogen sie zu sich herab. Dazu erklangen Worte aus dem Buch Jesaja: Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern?
Fortsetzung folgt.
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