„Peter, bist du das?“
Die Antwort erübrigte sich. Peter riss die Tür zum Schlafzimmer auf, ohne anzuklopfen oder sich sonst wie bemerkbar zu machen. „Ich hab nicht viel Zeit“, sagte er. „Hab dir was mitgebracht.“ Er reichte ihr ein langes, schwarzes Etwas.
„Was ist das?“ Mona setzte ihre Brille auf und erkannte einen Kleidersack, der aus einem Bügel und einer darüber gestülpten Plastikfolie bestand. Ihre Reinigung benutzte manchmal solche Schutzverpackungen, wenn sie wertvolle Kleidungsstücke auslieferte, doch Mona erinnerte sich nicht, etwas zum Reinigen gegeben zu haben.
„Ein Geschenk“, antwortete Peter knapp. Er legte Jackett und Krawatte ab. „Haben wir noch saubere Hemden? Ich brauch ein weißes Hemd.“
„Ja, im Schrank sind jede Menge. Warum machst du mir ein Geschenk?“ Behutsam zog sie die Plastikfolie ab.
„Zum Geburtstag.“
„Der ist in zwei Monaten… Oh nein.“ Mona stockte der Atem, als sie sah, was sich unter der Folie befand. Es war ein Abendkleid, eines, das ihr bekannt vorkam.
„Erinnerst du dich? Das wurde auf der Modenschau gezeigt, bei dem Wohltätigkeitsball. Du sagtest, es gefällt dir.“ Peter warf sein Hemd achtlos auf das Bett.
„Das stimmt, aber es war irrsinnig teuer.“
„Ich kann es mir leisten. Ich möchte, dass du es gleich heute Abend anziehst. Wir sind bei den Hendersons eingeladen. Ein kleines Fest. Ihr Sohn hat seinen Abschluss gemacht.“
„Heute Abend? Warum hast du das nicht früher gesagt?“
„Weil ich es selbst nicht früher wusste. Der junge Henderson ist sonst ein Versager. Niemand hat damit gerechnet, dass er das Ziel erreicht. Wahrscheinlich hat sein alter Herr nachgeholfen.“
Mona hielt sich das Kleid an den Körper. Es sah schön aus, aber auch sehr eng. Sie betrachtete sich im Spiegel. Ihre Hüften ragten über das Kleid hinaus, so schien es ihr, und der Stoff war nicht übermäßig dehnbar. „Ich muss erst eine Anprobe machen. Vielleicht passt es mir gar nicht. Vielleicht muss es geändert werden.“
„Nein, nein, es hat genau deine Größe. Ich habe mich erkundigt. Außerdem, mit deinen Yogakünsten kommst du überall rein. Stell dir vor, was du für einen Auftritt haben wirst. Bestimmt werden einige von den Damen das Kleid wiedererkennen, ein echtes Modellkleid. Und das Geld dafür geht an die Aids-Hilfe. Ist doch großartig.“
„Ja, großartig“, wiederholte Mona.
„Es geht um acht los. Ich bin um halb acht wieder da und hole dich ab.“ Eilig knöpfte er das frische Hemd zu.
„Möchtest du etwas essen? Soll ich dir etwas warm machen?“
„Nein, ich hatte vorhin ein Geschäftsessen. Nicht vergessen, halb acht.“ Er nahm das Jackett, legte es über seinen Arm; die Krawatte band er sich bereits im Flur.
Ratlos stand Mona vor dem Spiegel. Das Kleid war wirklich sehr schön, sie hätte es gerne auf dem Fest getragen. Wahrscheinlich würden es ihre Bekannten, die Frauen von Peters Kollegen, die Frauen aus der Nachbarschaft, tatsächlich wiedererkennen, solche Dinge entgingen ihnen nicht. Doch Mona fürchtete auch, dass ihr das Kleid nicht passen würde, dass sie sich darin nicht wohlfühlen würde. Normalerweise trug sie bei offiziellen Anlässen nur maßgeschneiderte Kleidung, sie hatte nun mal nicht mehr die Figur einer Zwanzigjährigen. Es stimmte zwar, sie machte regelmäßig Yoga und beherrschte einige anspruchsvolle Übungen, doch Yoga war kein Zaubermittel.
Ein leises Stöhnen kam über ihre Lippen. „Also dann…“
Mona nahm das Kleid vom Bügel und zwängte sich hinein. Zunächst ging alles gut, es passte über ihre Hüften, es passte über ihre Brüste, die Träger ließen sich über die Schultern streifen – nur den Reißverschluss bekam sie nicht zu. Sie probierte es mehrfach, atmete tief ein, hielt die Luft an, wand sich wie eine Schlange, doch auch mit der allergrößten Mühe ließ er sich nur zur Hälfte schließen, die letzten paar Zentimeter blieben offen. Mona war davon nicht überrascht, solche Kleider wurden entworfen für junge Frauen an der Grenze zur Magersucht, nicht für Frauen Mitte vierzig, die drei Kinder geboren hatten. Sie gab es auf, schälte sich wieder aus der engen Hülle.
Sie ärgerte sich. Eine Schande, so ein schönes Kleid nicht tragen zu können, weil ein paar Zentimeter fehlten. Sie überlegte, was sie in der Kürze der Zeit unternehmen könnte…
Ihr kam eine Idee. Mona erinnerte sich, dass sie ein Korsett besaß, welches man mit Schnüren, Haken und Ösen besonders eng einstellen konnte. Es war einem Modell aus dem 19. Jahrhundert nachempfunden und wurde auch als Sanduhr bezeichnet, weil es seiner Trägerin eine ebensolche Gestalt verlieh. Nicht gesund, aber sexy. Peter hatte es ihr vor Jahren geschenkt, um ihr Sexleben, das während der langen Ehe etwas eingeschlafen war, aufregender zu machen. Er fantasierte von der Belle Époque, den Salons und Bordellen, die Toulouse-Lautrec malte, von Sado-Maso-Spielen und einem Folterkeller. Dazu kauften sie eine Menge Kleider, Sexspielzeuge und sogar Möbel, teilweise Originalstücke aus der Zeit um 1900. Benutzt hatten sie davon fast nichts, beide verloren schnell das Interesse daran. Die Fantasien funktionierten nicht in der Wirklichkeit.
Aber wo war das Korsett nur? Schon längere Zeit hatte sie es nicht mehr getragen, auch schon längere Zeit nicht mehr gesehen. Sie suchte in ihrem Wandschrank, in sämtlichen Fächern, sie suchte in der Kommode, in der ihre Unterwäsche lag, doch ohne Erfolg. Dann fiel es ihr wieder ein. Zum Schutz vor neugierigen Putzfrauen und vor ihren Kindern hatte sie es an einem sicheren Ort versteckt: ihrem begehbaren Kleiderschrank, der ganz hinten in der Ecke ein Geheimfach besaß. Sie schaltete die Beleuchtung an und kroch in die Höhle hinein, das letzte Stück musste sie sich vortasten, weil das Licht nicht so weit reichte. Hinter gestapelten Schuhkartons fand sie schließlich das Fach. Oben, in der ersten Schublade, bewahrte sie ihren wertvollen Schmuck auf, die Kästchen mit den Ohrringen, Ketten und Armbändern, die teilweise noch aus ihrer Kinderzeit stammten und die sie nur selten hervorholte. Darunter lag ihr Sexspielzeug, die Dildos und Vibratoren, die sie weit häufiger hervorholte. Meist hatte sie einen Schmetterling aus Silikon in der Kommode mit ihrer Unterwäsche versteckt, die großen Teile benutzte sie nur, wenn Peter auf Geschäftsreise war. Unter dem Spielzeug lag eine Pappschachtel, und in dieser Schachtel fand sie das gesuchte Korsett. Mona stieß einen leisen Triumphschrei aus und kehrte ans Tageslicht zurück.
Sofort probierte sie das Korsett an. Einfach war es nicht, sie musste die langen Schnüre an ihrem Rücken allein zubinden, als Hilfsmittel stand ihr nur der große Spiegel zur Verfügung. Es dauerte eine ganze Weile, es tat ein bisschen weh, statt Sanduhr hätte man das Modell auch Schraubstock nennen können. Aber das Korsett erfüllte seinen Zweck, es passte sehr gut und verringerte ihren Taillenumfang um die entscheidenden Zentimeter. Wenn sie bis zum Abend nichts mehr trinken würde, und wenn sie flach atmen würde, dann müsste es klappen, dann müsste sie in der Lage sein, das Fest in dem neuen Kleid mit Anstand hinter sich zu bringen – und vielleicht würde auch das eine oder andere Kompliment für sie dabei herausspringen.
Mona sah ihr Spiegelbild an. Sie war noch immer eine attraktive Frau, fand sie, trotz der Falten im Gesicht. Das Beste befand sich unterhalb des Gesichts: ihr Körper, der trotz einiger kleiner Makel recht wohlgeformt war. Die vielen Stunden, während derer sie im Fitnessraum schwitzte, die Yogaübungen und das disziplinierte Essen zahlten sich aus. Von weitem betrachtet, konnte man sie für eine Dreißigjährige halten. Und wenn sie die Operation machen ließ, auch wieder von nahem betrachtet. Dann würde sie vielleicht wieder mehr mit Peter unternehmen. Seit Jahren waren sie nicht mehr gemeinsam im Theater oder im Kino gewesen, ihre abendlichen Verabredungen hatten immer etwas mit seinem Beruf zu tun.
Fortsetzung folgt.
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