Dann jedoch hatten sie die Mauern der Stadt hinter sich gelassen, sie fuhren in ein weites, leicht hügliges Gelände. Hier war alles anders. Es gab keine Deckung, und der Wind zerstreute ihre Rauchwolken. Wie schon die babylonischen Armeen, mussten sie sich zur offenen Feldschlacht stellen, eine antike Form des Krieges, die sich manchmal aber nicht vermeiden ließ. Hassan stoppte den Zug der fünf Panzer. Er klappte die Turmluke auf und streckte seinen Oberkörper hinaus. Weil alle Frequenzen gestört waren, musste er die Anweisungen per Handzeichen erteilen. Seine Männer verstanden, was er meinte; sie stoben auseinander, besetzten eine Anhöhe und brachten ihre Streitwagen in Gefechtsposition. Nun hieß es, geduldig zu sein, auf den Gegner zu warten. Die Iraker hatten den Vorteil des Verteidigers, die anderen mussten kommen.
Hassan ließ sich ein Fernglas reichen. Er hoffte, ein Aufklärungsbataillon zu entdecken, welches das Gelände mit schnellen und leichten Fahrzeugen erkundete, etwa dem amerikanischen M3 Bradley-Panzer. Auch eine Luftlandeeinheit käme ihm sehr gelegen, da ihre Fahrzeuge, zum Beispiel der Radpanzer Stryker, ebenfalls nicht zu schwer sein durften, damit sie per Flugzeug verlegt werden konnten. Beide Typen waren relativ schwach gepanzert und deshalb eine leichte Beute für seine T-55. Den schweren amerikanischen M1 Abrams und den britischen Challengers hingegen wollte er aus dem Weg gehen, um sie sollte sich die Republikanische Garde kümmern.
Es dauerte nicht lange, bis er eine Staubwolke in der Ebene aufspürte. Hassan stellte sein Fernglas scharf, ein Schattenbild zeichnete sich ab; das führende Fahrzeug war flach, breit, kantig, sein Rohr ragte drohend aus dem Staub hervor: ein M1 Abrams.
Hassan erstarrte vor Schreck. Er hatte sich verrechnet. Sie waren erledigt. Im Grunde brauchten sie den Kampf gar nicht aufzunehmen, das Ergebnis stand bereits fest. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er aus dem Panzer springen und davonlaufen sollte. Fahnenflucht. Freiheit oder Standgericht. Es desertierten doch so viele Soldaten, ganze Kompanien hatten sich aufgelöst. Auf einen mehr oder weniger käme es nicht an. Die Bilder rasten durch seinen Kopf. Doch ehe er sich über alle Konsequenzen bewusst war, hatte er schon die Luke geschlossen und seinen Platz im Inneren des Panzers eingenommen. Der Film lief automatisch ab, er verrichtete die Handgriffe, die er so oft geübt hatte, gab die Befehle, die er in Manövern so oft gegeben hatte – dies jedoch war kein Manöver, es war ein echter Krieg. Hassan zitterte am ganzen Leib.
Die Angehörigen beider Parteien bemerkten sich etwa zum gleichen Zeitpunkt und begannen sofort das Gefecht – allerdings taten sie nicht das Gleiche. Während die Richtschützen der T-55 durch Winkelspiegel und Zielfernrohre blickten, um ihre Kanonen mithilfe von Hebeln und Drehschaltern auszurichten, blickten die Richtschützen der M1 auf einen Monitor und markierten ihre Ziele mit einem Cursor. Der amerikanische Feuerleitrechner war in der Lage, bis zu sechs Ziele gleichzeitig zu erfassen und zu bekämpfen, er berücksichtigte sogar Faktoren wie den Seitenwind, der seine Geschosse ablenken konnte, und glich sämtliche Bewegungen aus, die der Panzer während der Fahrt vollzog – der Richtschütze musste lediglich auf den Abzug drücken.
Hassans Panzer galt der erste Schuss. Deutlich spürte seine Besatzung die Erschütterung, es gab einen gewaltigen Knall – beides rührte jedoch nur teilweise von der feindlichen Granate her, mindestens ebenso sehr entstammte es der reaktiven Panzerung des T-55. Rund um die Wanne und den Turm waren Kacheln angebracht, fast hundert Stück, die jeweils aus einer Stahlplatte und einem dahinterliegenden Sprengstoffpaket bestanden. Eines davon explodierte, als die Granate den Panzer traf, und die Platte schlug sie zurück, ähnlich wie ein Tennisspieler einen Ball zurückschlägt. Im modernen Panzerkrieg benutzte man zumeist reine Wuchtgeschosse, ohne Explosivladung, weshalb dieser Angriff den Panzer nahezu unbeschädigt ließ.
Die Männer in dem T-55 atmeten auf, sie wussten, dass sie eine zweite Chance bekommen hatten. Sie wussten aber auch, dass sie jetzt nackt und verwundbar waren, zumindest an dieser Stelle – der nächste präzise Schuss würde ihr Ende bedeuten.
Fünf Sekunden – so lange brauchte der Ladeautomat des Abrams, um eine neue Granate in das Rohr einzuführen. Fünf Sekunden. Zeit für eine Gegenwehr. Ein Treffer am Turm des Amerikaners würde ihn zwar nicht vernichten, aber kampfunfähig machen. Vielleicht könnte man ihm auch in die Kette schießen. Dann wäre er bewegungsunfähig. Die irakischen T-55 könnten ihr Feuer konzentrieren und ihn in seine Einzelteile zerlegen.
Die Finger des irakischen Richtschützen zitterten, er musste noch einmal korrigieren. Die Explosion hatte seinen Turm verdreht, nur ein paar Grad, aber es reichte, um seine vorherigen Berechnungen zunichte zu machen. Er wollte gerade den Abzug drücken, da traf eine weitere Granate den Panzer, wieder an derselben Stelle. Ihr Stahlpfeil durchbrach die Hülle des T-55 und zerbarst in seinem Inneren. Mit einer kinetischen Energie, die der eines Schwerlastwagens entsprach, welcher in voller Fahrt gegen einen Brückenpfeiler stieß, wurden die Trümmerstücke umhergeschleudert. Der Richtschütze und der Fahrer waren sofort tot, sie saßen an einer ungünstigen Stelle, direkt hinter der Frontplatte. Hassan und der Ladeschütze überlebten mit schweren Verletzungen, weil Splitterschutzmatten ihre Sitzplätze umgaben.
Hassan wusste nicht, wie lange er ohnmächtig gewesen war. Als er wieder zu sich kam, spürte er zuerst den dichten Qualm, der den Panzer erfüllte. Irgendetwas brannte, vielleicht die Treibladung der Granate. Er konnte kaum atmen, er konnte fast nichts sehen, der Qualm reizte seine Augen, Blut lief an seinem Körper herab, und er hatte einen Schock, der ihn daran hinderte, klar zu denken. Instinktiv ahnte er jedoch, dass sie das Wrack so schnell wie möglich verlassen mussten, ehe sie erstickten oder die gelagerte Munition explodierte.
„Raus! Raus! Raus!“, brüllte er in den Qualm und die Dunkelheit hinein.
Mit letzter Kraft versuchte er, die Luke des Notausstiegs zu öffnen. Er musste sich dafür ungeheuer anstrengen, das Rad war schwergängig, seine Verletzungen behinderten ihn, und er fand mit den Füßen keinen sicheren Halt, weil der Tank einen Riss bekommen hatte und Treibstoff auslief. In dem Augenblick, in dem es ihm gelang, die Luke aufzustoßen, traf ein Schwall Dieselöl auf ein rot glühendes Trümmerstück der amerikanischen Granate. Das Öl entzündete sich, mehrere Hundert Liter gerieten in Brand, die Stichflamme suchte nach Sauerstoff und schoss durch den Notausstieg ins Freie hinaus. Hassan verbrannte bei lebendigem Leib, unendliche Sekunden lang spürte er unermessliche Schmerzen, dann erlöste ihn eine gnädige Ohnmacht und er starb. Seine Leiche verkohlte vollständig. Hinterher sah es ein bisschen so aus, als steckte ein Docht in einem niedergebrannten Teelicht.
Hassans Familie erfuhr nicht, was genau geschehen war. Sie erhielt die Standardnachricht der irakischen Armee: Gestorben als Märtyrer für die gerechte Sache…
Das gesamte Gefecht dauerte nur vier Minuten. Innerhalb dieser Zeitspanne wurden alle fünf irakischen Panzer vernichtet, zwanzig Männer fanden den Tod. Von den amerikanischen Soldaten erlitt niemand eine Verletzung, noch während die T-55 im Vollbrand standen, nahmen sie bereits die Glückwünsche ihres Kommandeurs entgegen.
Fortsetzung folgt.
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