Der Höllenmaschinist - Teil 16 der Fortsetzungsgeschichte

Von Lyck
   Peter wollte es nicht aussprechen, aber er hatte die Bilder noch immer vor Augen. Es begann harmlos, mit kleinen Schritten. Nach der Geburt der Kinder fühlte sich Mona kraftlos und überfordert, auch bei Peter beklagte sie sich darüber. Eine Freundin empfahl ihr Yoga. Sie gab ihr ein Buch mit Übungen, erzählte von eigenen Erfahrungen. Mona hörte nur mit einem Ohr zu, mit dem anderen lauschte sie nach den Kindern, nebenbei blätterte sie in dem Buch, dachte an das Essen, das sie noch zubereiten musste und an den nächsten Einkauf, stellte schon eine Liste von Dingen zusammen, die sie besorgen wollte. Als ihre Freundin, die einige Jahre älter war, aber plötzlich auf einem Bein stand und mit ihrem Fuß von hinten den Kopf berührte, vergaß sie alles um sich herum. Mona war sprachlos. Das wollte sie auch schaffen.
   Ihre erste Übung hieß Der Berg und bestand nur darin, sich aufrecht hinzustellen, die Arme über die Seiten gestreckt nach oben zu führen und die Handflächen zusammenzulegen. Peter lachte darüber. Das kann doch jeder, behauptete er. Mona kümmerte sich nicht um seine Reaktion, sie machte weiter. Jeden Morgen und jeden Abend absolvierte sie ihre Übungen, die immer schwieriger und zeitaufwendiger wurden. Als sie auch mit dem Fuß ihren Kopf berühren konnte, lachte Peter nicht mehr. Im Gegenteil, plötzlich unterstützte er sie, nahm ihr sogar während des Trainings die Kinder ab. Es gefiel ihm, dass seine Frau so schlank, sportlich und vor allem dehnbar war. Er wollte mit ihr Dinge im Bett ausprobieren, von denen er bis dahin nur geträumt hatte. Mona durchschaute seine Absichten – und lächelte darüber. Sie erfüllte ihm seine Wünsche, die auch die ihren wurden. Fast beiläufig, als ein Nebeneffekt, näherte sie sich ihrer inneren Mitte. Immer seltener regte sie sich auf, über schlechte Noten der Kinder oder die ewigen Staus auf den Straßen, und sie ließ sich nicht mehr so leicht ablenken, weder durch Geschwätz noch durch das Hupen genervter Autofahrer. Mona tat nur eine Sache zur Zeit, die aber bewusst und mit voller Konzentration.
   Dabei blieb es nicht. Mona besorgte sich Bücher über Meditation, belegte einen Kurs, nahm an Seminaren teil. Obwohl sie das Gefühl hatte, mehr zu tun, mehr zu erleben, leerte sich ihr Terminkalender. Sie fuhr nicht mehr rastlos umher, von einem Einkaufszentrum zum nächsten, sie war nicht mehr der Chauffeur für jeden aus ihrer Familie und nahm auch nicht mehr an jeder Veranstaltung in der Nachbarschaft teil. Oft setzte sie sich auf ihre Strohmatte, dachte an nichts und verspürte einfach nur die Lust am Dasein.  
   „So eine Zeitverschwendung.“ Peter schüttelte den Kopf. „Mona konnte nicht mehr damit aufhören. Sie benutzte eine Klangschale und hat Räucherstäbchen angezündet. Bei uns roch es wie in einer Opiumhöhle. Und am Ende sagte sie dann im Gerichtssaal: Ich vergebe dir deine Schuld. Vor all den Leuten! Als ich das gehört habe, wäre ich vor Scham am liebsten im Boden versunken.“
   „Peter, sie ist nicht verrückt. Mona ist eine weise Frau. Was hätte es ihr gebracht, wenn sie Wut- und Rachegefühle gegenüber Leroy ausgedrückt hätte? Nichts. Ihr Leben wäre dadurch nicht besser sondern schlechter geworden. Denn die Gefühle hätten sie gequält, nicht ihn. Also hat sie Leroy verziehen – und dadurch auch sich selbst.“
   „Dazu hat sie nicht das Recht. Wenn ihm verziehen wird, dann tut er es doch wieder! Eine Strafe muss auch abschreckend wirken.“
   „Abschreckung funktioniert in den meisten Fällen nicht. In eurem Land gibt es die Todesstrafe, trotzdem habt ihr eine der höchsten Mordraten der Welt.“
   „Gut, über die Höhe der Strafe kann man reden. Aber Strafe muss sein. Sonst bricht das totale Chaos aus, dann macht jeder, was er will. Schuld und Sühne, das war immer so, und das wird immer so sein.“
   „Schuld und Sühne ist ein sehr dummes Prinzip, eines der dümmsten, das die Menschheit erfunden hat. Durch Ableisten einer Sühne wird die schuldhafte Tat weder ungeschehen gemacht, noch verhindert man, dass eine neue schuldhafte Tat begangen wird. Die sogenannte Schuld entsteht immer aus einer konkreten Situation heraus, und diese Situation wird von allen Beteiligten erschaffen.“
   „Von allen Beteiligten? Willst du etwa sagen, dass wir daran schuld sind? Willst du Opfer zu Tätern machen?“ Peter atmete tief ein, spannte seinen Brustkorb, er pumpte sich regelrecht auf.
   Helena beeindruckte er damit nicht. „Ja, ja, du armes Opfer. Du bist ein Opfer in einer Millionen-Dollar-Villa. Das war doch genau das Problem. Leroy wusste, dass ein Mensch mit seinen Fähigkeiten und seiner Herkunft niemals das erreichen kann, was du erreicht hast, Peter. Zumindest nicht auf ehrliche Weise. Deshalb hat er nach einer Alternative gesucht.“
   „Eine Alternative wäre harte Arbeit gewesen.“
   „Für sechs Dollar fünfundfünfzig pro Stunde? Würdest du für diesen Lohn arbeiten, Peter?“  
   Er blieb die Antwort schuldig. „Anders geht es nun mal nicht. Es muss auch Leute geben, die die einfache Arbeit machen. Diese Arbeit kann nicht hoch bezahlt werden, sonst lohnt es sich nicht.“  
   „Es gibt sehr wohl Alternativen, die sich lohnen. Eine davon ist das bedingungslose Grundeinkommen. Das bedeutet, dass jeder Mensch so viel Geld bekommt, wie er zur Erfüllung seiner Grundbedürfnisse benötigt, also Gesundheit, Miete, Nahrungsmittel, Kleidung.“
   „Bedingungsloses Grundeinkommen?“ Er schüttelte den Kopf. „Ausgeschlossen. Dann würde doch niemand mehr arbeiten.“
   „Warum? Die meisten Menschen haben Spaß daran, etwas zu erschaffen, Dinge zu verbessern. Nur leider sind viele Arbeitsplätze so gestaltet, dass die Arbeit dort keinen Spaß macht.“ 
   „Das ist doch gar nicht zu bezahlen. Wenn jeder ein Grundeinkommen erhalten würde, sagen wir mal fünfhundert Dollar im Monat, würden sich dadurch Milliardenbeträge ergeben, die der Staat jedes Jahr aufbringen müsste.“
   „Ja, es wären Milliardenbeträge – aber euer Volk besitzt Billionenwerte. Sie sind nur sehr ungleichmäßig verteilt. Außerdem verplempert ihr viel Geld für unnötige Dinge, zum Beispiel für Kriege. Vor allem aber würde durch die Grundsicherung eine gewaltige Wertschöpfung erfolgen – und zwar nicht nur eine finanzielle. Stell dir vor, ihr würdet dieses Modell einführen. Sofort. Auf der ganzen Welt. Was würde geschehen? Kein Mensch müsste mehr hungern. Kein Mensch müsste mehr betteln, stehlen oder sich prostituieren, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Kein Mensch müsste mehr die Schule abbrechen, um Geld zu verdienen.“
   „Kein Mensch würde mehr zur Schule oder Universität gehen. Die würden alle faul am Strand liegen.“
   „Peter, glaubst du wirklich, dass die Menschen gerne faul und dumm sind?“
   „Nicht alle, aber ziemlich viele.“
   „Das Gegenteil ist der Fall. Die meisten Menschen möchten schöpferisch und rege sein, sie möchten lernen und sich weiterentwickeln. Nur leider haben viele nicht die Möglichkeit dazu, weil sie einen großen Teil ihrer Zeit und Energie ins nackte Überleben investieren müssen. Viele wissen gar nicht, welche Fähigkeiten in ihnen schlummern. Leroy zum Beispiel. Er ist ein guter Geschichtenerzähler. Er besitzt das Talent, Geschichten in Worten und Bildern zu erzählen. Und er kann sich sehr gut Geschichten ausdenken. Wenn er an einen fremden Ort kommt, fällt ihm sofort etwas dazu ein, was dort geschehen sein könnte oder noch geschehen wird, wenn ihm eine fremde Person begegnet, hat er sofort Ideen zu deren Vergangenheit oder Zukunft.“
   „Leroy? Ausgerechnet der?“
   „Ja, ausgerechnet der. Hätte er Zeit gehabt, sich darüber bewusst zu werden, hätte er eine Förderung erhalten, wäre aus ihm vielleicht ein berühmter Regisseur geworden.“
   „Okay, okay, das mag ja alles sein. Aber du hast einen entscheidenden Punkt übersehen, Helena. Leroy hat den größten Teil seiner Strafe für die zweifache Vergewaltigung bekommen. Davon hätte ihn auch das bedingungslose Grundeinkommen nicht abgehalten.“
   „Wahrscheinlich doch, denn dann wären die Bedingungen anders gewesen. Sex und Geld sind in eurer Gesellschaft eng miteinander verbunden. Formulieren wir es mal so: Ein Mann, der in der Küche eines Schnellrestaurants arbeitet, ist nicht gerade der begehrteste Heiratskandidat. In Leroys Leben gab es nicht genug Sex. Und was ihm fehlte, nahm er sich mit Gewalt.“
   „Womit er sich nur noch tiefer reingeritten hat. Seine Bilanz ist extrem unausgeglichen. Der Kerl muss nach seinem Tod in die Hölle kommen. Das verlange ich! Wenn es noch Gerechtigkeit gibt, dann musst du, Helena, oder ein anderer Engel ihn in die Hölle bringen.“
   „Wozu? Eine Hölle habt ihr ihm doch schon bereitet: achtzig Jahre Haftstrafe! Bei seiner Verurteilung war Leroy fünfundzwanzig Jahre alt. Erst nach fünfzig Jahren kann er um Begnadigung bitten. Fünfzig Jahre im Gefängnis! So lange wird er keine Freiheit haben, keinen Baum und keinen Grashalm sehen, nicht am Strand entlanglaufen und nicht im Meer schwimmen, kein Auto fahren und keine fremde Stadt besuchen, er wird keine Frau berühren dürfen, wird sie nicht küssen und streicheln und keinen Sex mit ihr haben. Das wunderbare Geschenk der Liebe wird ihm verwehrt bleiben. Kannst du dir das vorstellen, Peter?“
   „Nein, muss ich ja auch nicht. Ich hab schließlich nichts verbrochen. Der Kerl sollte lieber darüber nachdenken, was er getan hat.“
   „Das wird er auch. Und genau da liegt seine Chance. Durch Nachdenken kann er der Situation entkommen.“
   „Ein Ausbruch aus dem Gefängnis? Sehr unwahrscheinlich.“
   „Nein, die Mauern wird Leroy nicht überwinden können. Aber er kann sein Verhältnis zu ihnen ändern. Eine Gelegenheit dafür ist schon vorbereitet. In ein paar Monaten wird man Leroy zur Arbeit in der Gefängnisbücherei einteilen. Dort wird er auf ein Buch stoßen, welches verschiedene Methoden des Meditierens vorstellt – ja, es ist das verrückte Zeug, von dem du eben gesprochen hast. Wenn Leroy seine negativen Gedanken und Gefühle in sich auflöst, wird er das Paradies erleben – in dieser und in der nächsten Welt.“
Fortsetzung folgt.
Unter diesem Link finden Sie die bisher erschienen Teile.

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