Der Höllenmaschinist - Teil 12 der Fortsetzungsgeschichte

   Auf dem Korridor fragte ihn eine mexikanische Kollegin, ob er schon fertig sei. Jack antwortete nicht. Mit dem Lastenfahrstuhl fuhr er ins oberste Stockwerk hoch. Dort suchte er den Aufgang zum Dach. Er stieg eine Metallleiter hoch und fand eine Tür, zu der sein Schlüssel passte. Draußen wehte ein warmer Wind, die Sonne ging unter – die richtige Zeit, um einen kühlen Drink auf der Terrasse zu nehmen. Jack trat an die Dachkante heran. Ein letztes Mal genoss er das Panorama von Las Vegas. Die Neonreklamen der Casinos leuchteten in allen Farben, Wasserfontänen stiegen auf, Luxuslimousinen und Touristenbusse rollten durch die Straßen. Die Stadt lebte, und sie entwickelte sich weiter, überall wurde gebaut, Dutzende Baukräne verteilten sich über die wenigen freien Grundstücke. Jack hatte davon gehört, dass allein drei Hotelkomplexe mit jeweils mehr als tausend Zimmern errichtet werden sollten. Das würde eine Menge Arbeit und Wohlstand bringen, höhere Umsätze in den Geschäften und Restaurants und mehr Steuereinnahmen. Man müsste neue Arbeitskräfte anwerben, neue Straßen und ganze Wohnviertel bauen, als Folge daraus bräuchte die Stadt mehr Energie. Man müsste neue Leitungen zum Hoover-Damm ziehen oder noch besser Solarkaftwerke errichten, Sonne gab es schließlich genug in der Wüste. Auch das wäre eine schöne Aufgabe für ihn gewesen…  
   Jack machte einen Schritt vorwärts. Sein Körper schlug auf dem Parkplatz auf, neben einem Geländewagen aus Korea.
   Peter und Helena schwiegen für einen Augenblick. Sie ließen die letzten Geräusche verklingen, das Rauschen der Luft, das   Zerplatzen eines menschlichen Körpers. Das letzte Bild erinnerte ein wenig an die Fontänen vor den Hotels, Blut spritzte in alle Richtungen davon.
   „Traurige Sache“, sagte Peter schließlich. Er sprach leise. „Dieser Jack war wohl ein anständiger Kerl, ein echter Patriot. Seiner Witwe und seinen Kindern gilt mein Beileid.“ Etwas lauter fügte er hinzu: „Aber davon lasse ich mir keine Gewissensbisse einreden.“
   „Darum geht es nicht“, erwiderte Helena. „Es geht nicht um Gewissensbisse oder Patriotismus. Wir sprachen vorhin über die Bilanzen eurer Bank. Du hattest behauptet, sie seien ausgeglichen, aber das stimmt nicht. Sie sind einseitig belastet, sehr hoch sogar. Sie sind belastet durch Jacks Tod.“
   „Unsinn. Jack hat drei Fehler gemacht: zu hohe Kredite aufgenommen, falschen Zinssatz abgeschlossen, mögliche Arbeitslosigkeit nicht einkalkuliert. Er war selbst schuld.“
   „Jack wurde beeinflusst. Von professionellen Bankberatern, die genau wussten, was sie taten. Nach und nach erweiterten sie seinen Kreditrahmen, für das Haus, für die Autos, für die Kreditkarten. So verlor er allmählich den Überblick.“
   „Helena, der Mann war Ingenieur. Einer wie er darf den Überblick nicht verlieren. Er war ja schließlich kein Idiot.“  
   „Millionen Menschen waren keine Idioten, und trotzdem wurden sie durch die Finanzkrise ins Unglück gestürzt. Nicht nur Menschen, die Kredite von Banken aufnahmen, sondern auch solche, die ihnen Kredit gewährten, also Wertpapiere von ihnen kauften. Viele von ihnen erwiesen sich hinterher als Schrottpapiere, Millionen Menschen auf der ganzen Welt erlitten dadurch Verluste, viele verloren sogar ihre gesamten Ersparnisse. In vielen Ländern mussten die Steuerzahler die Banken mit Milliardensummen unterstützen, Geld, das an anderer Stelle dringender gebraucht wurde. Auch daran hatte deine Bank einen erheblichen Anteil.“
   „Moment. Ich weiß, worauf du hinaus willst. Mein Chef Mr. Henderson und dessen Vertreter Mr. Stearn wurden angeklagt wegen dieser Sache. Ein echter Skandal, solch ehrwürdige Männer vor Gericht zu bringen. Als ob sie Drogenhändler wären oder so was.“
   Peter ging aufgeregt im Kreis umher. „Der Staatsanwalt nannte es Verschwörung, Betrug und Insiderhandel. Und was war das Ergebnis? Die Jury sprach beide in allen Anklagepunkten frei – und damit auch die ganze Bank.“
   „Das ist so nicht korrekt, Peter. Die Jury hat sie freigesprochen aufgrund Mangels an Beweisen. Das heißt nicht, dass sie sich keiner Verfehlung schuldig gemacht hätten, sondern nur, dass man es ihnen nicht nachweisen konnte. Das ist keine besondere Überraschung, wenn man euer System näher betrachtet. In eurer Bank habt ihr die Verantwortung aufgeteilt auf verschiedene Ebenen; konkret auf den Verwaltungsrat, den Vorstand, die Projektleiter, Niederlassungsleiter und Abteilungsleiter. Der Staatsanwalt hätte einer bestimmten Person einen bewussten Gesetzesverstoß oder zumindest Fahrlässigkeit nachweisen müssen, was praktisch unmöglich ist. Dazu kommt noch die personelle Unterbesetzung jener Staatsanwaltschaften, die für Wirtschaftskriminalität zuständig sind. Für euren Fall wurden gerade einmal zwanzig Ermittler abgestellt, und die mussten sich mit einer enorm schwierigen Materie befassen. Sie mussten einen Aktenbestand durcharbeiten, der rund zweihunderttausend Seiten umfasste. Allein in eurer Rechtsabteilung arbeiten mehr als hundert Personen, und in diesem Fall habt ihr zusätzlich noch eine externe Kanzlei beauftragt. Die besten und teuersten Anwälte des Landes haben für euch gearbeitet.“
   „Das ist unser gutes Recht“, erwiderte er kühl.
   „Das ist das Recht, das ihr euch genommen habt. So wie es auch eurem Rechtsverständnis entsprach, Kreditforderungen nicht eins zu eins weiterzuverkaufen. Stattdessen habt ihr sie zu Paketen zusammengeschnürt, gute Kredite zusammen mit faulen Krediten. Diese Pakete habt ihr dann geteilt, mit anderen Teilen zu neuen Paketen zusammengeschnürt und international vermarktet. Am Ende waren die Konstrukte dermaßen verschachtelt, dass niemand sie mehr durchschaute.“
   „Es gab Rating-Agenturen, die unsere Fonds bewerteten.“
   „Diese Agenturen waren von euch abhängig, von euch bekamen sie die größten Aufträge. Entsprechend fielen ihre Bewertungen aus. Damit sind wir auch schon beim nächsten Problem, den wirtschaftlichen und personellen Verflechtungen. In eurem System findet ein ständiger Wechsel statt, Menschen wechseln von den Agenturen zu den Banken, vom Vorstand in den Verwaltungsrat, von der Wirtschaft in die Politik und umgekehrt. Nicht wenige eurer Senatoren und Minister waren früher in der Wirtschaft tätig. Ihr habt sogar ein eigenes Wort dafür geschaffen: das Drehtürprinzip. Entsprechend fällt die Gesetzgebung eures Landes aus, sie ist sehr wirtschaftsfreundlich. Diese Freundlichkeit bezieht sich vor allem auf diejenigen, die in den oberen Etagen der Unternehmen sitzen und selbst bei völligem Versagen mit keinen Konsequenzen zu rechnen haben.“
   „Keine Konsequenzen? Von wegen. Wer die Renditeziele nicht erreicht, wird gefeuert. So wie Mr. Parker, mein alter Chef.“
   „Ja, und er bekam eine Abfindung von drei Millionen Dollar. Eine geradezu unmenschliche Strafe.“
   „Das war in seinem Vertrag so vereinbart. Die übliche Klausel.“
   „Davon können einfache Arbeitnehmer nur träumen. Sie erhalten eine echte Strafe, selbst wenn sie nur einen geringen Schaden verursachen. Erinnerst du dich, Peter, es gab mal eine Sekretärin bei euch, die hatte etwas Büromaterial mitgenommen. Was ist mit ihr geschehen?“
   „Sie wurde entlassen. Aber das kannst du nicht vergleichen, Helena. Man darf nicht stehlen. Ganz egal, ob der Schaden einen Dollar oder eine Million Dollar beträgt.“
   „Ihr habt einen Schaden von Milliarden Dollar angerichtet.“
   „Das ist etwas anderes. Es war die Folge der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung. Niemand hat es geplant, niemand hat es gewollt.“
   „Manche Leute nannten es Diebstahl – an Steuergeldern und Ersparnissen.“
   „Banken stehlen nicht. Banken machen Geschäfte.“
   Sie sah ihn schweigend an.
   Peter reckte die Arme empor. „Helena, du bist immer so moralisch, so schrecklich moralisch.“
   „Im Gegenteil, ich bin nicht moralisch. Das Universum kennt keine Moral, Gott kennt keine Moral.“
   „Gott kennt keine Moral?“ Er brach in Gelächter aus. „Das ist ja wohl der Witz des Jahrhunderts. Gott ist die Verkörperung der Moral.“
   „Nein, du irrst dich. Gott ist im besten Sinne unmoralisch. Er, sie oder es bewertet deine Handlungen nicht. Für dich gilt nur ein Grundsatz: Was du aussendest, kehrt zu dir zurück. Wenn du dazu beiträgst, dass Millionen Menschen in Armut leben, musst du auch die Konsequenzen daraus tragen. Auf die eine oder andere Weise.“
   „Jetzt hör aber auf. Du  klingst wie eine Kommunistin.“
   „Der Kommunismus ist auf diese Weise entstanden. Wenn sich die Schere zwischen Arm und Reich, Oben und Unten zu weit öffnet, suchen die Menschen nach Alternativen. Das kann der Kommunismus sein – oder religiöser Extremismus.“
   „Deshalb gebe ich anderen Menschen ja auch etwas ab von meinem Besitz. Jedes Jahr spende ich hohe Summen, und ich besuche regelmäßig Wohltätigkeitsbälle.“
   „Wo du ganz nebenbei Politiker und Unternehmer triffst, Kontakte pflegst, Geschäfte abschließt und noch ein bisschen reicher wirst.“  
   „Du übertreibst. So reich bin ich nun auch wieder nicht. Ich habe nicht mal einen Chauffeur, ich fahre immer noch selbst Auto.“
   „Du bist nicht reich? Peter, du hast letztes Jahr einen Bonus von zehn Millionen Dollar bekommen. Zusätzlich zu deinem normalen Gehalt.“
   „Ja, und damit war ich noch relativ bescheiden. Meine Abteilung hat einen Gewinn von zweihundert Millionen Dollar erzielt, als Leiter der Abteilung bekam ich davon fünf Prozent. Das ist wenig! In anderen Branchen, etwa in der Filmindustrie, sind fünfzehn Prozent üblich.“
   „Das ist aber nur die halbe Wahrheit, Peter. Zusammen mit deinem regulären Gehalt und den Aktien und Optionen, die du als versteckte Gehaltserhöhung bekommst, waren es fünfundzwanzig Millionen Dollar. Und du bist nicht einmal der Chef der Bank. Das ist Mr. Henderson. Er hat gute Chancen, am Ende seines Berufslebens Milliardär zu sein. Während Jacks Witwe ihr Lebensende in Armut verbringen wird.“
   Peter machte eine abwehrende Handbewegung. „Das gehört jetzt nicht hierher.“
   „Dann gehört es wahrscheinlich auch nicht hierher, dass ihr diese gewaltigen Summen auch dann erhaltet, wenn ihr Verluste macht und der Steuerzahler dafür einspringen muss. Vor nicht allzu langer Zeit hat eure Bank eine Nothilfe vom Staat in Anspruch genommen, mehr als fünf Milliarden Dollar. Schon im Jahr darauf habt ihr wieder die vollen Gehälter und Bonusse gezahlt.“
   „Ja, und das mit Recht. Wir haben die Nothilfe ja schließlich auch zurückgezahlt. Mit Zinsen! Wir haben gut gearbeitet und gutes Geld dafür bekommen.“
   „Dann lass uns mal ein bisschen rechnen, Peter. Der Mindestlohn in deinem Land beträgt sechs Dollar fünfundfünfzig pro Stunde. Das macht im Jahr rund zwölftausendfünfhundert Dollar. Du verdienst das Zweitausendfache. Ist deine Arbeit wirklich so viel mehr wert, als die Arbeit anderer Menschen?“
   „Natürlich. Denn nur ganz wenige Spezialisten können sie erledigen. Du kannst nicht irgendeinen Tölpel von der Straße nehmen und auf meinen Platz setzen. Dafür muss man sich qualifizieren, man muss sich hocharbeiten. In unserer freien und gerechten Gesellschaft kann das jeder. Jedem Mann und jeder Frau stehen alle Türen offen, jeder hat die gleichen Chancen. Ich habe sie genutzt, die Chancen. Ich kann gut rechnen, gut planen und organisieren. Ich muss mich nicht schämen, weil ich besser bin als ein anderer.“
Fortsetzung folgt.
Unter diesem Link finden Sie die bisher erschienen Teile.
Der Höllenmaschinist - Teil 12 der Fortsetzungsgeschichte
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Der Höllenmaschinist - Erzählung
2. Auflage
112 Seiten  Gedrucktes Buch EUR 7,90  E-Book EUR 3,99
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