Der Höllenmaschinist - Teil 11 der Fortsetzungsgeschichte

   Lange Zeit weigerte sich Jack, die Realität anzuerkennen. Als er es endlich tat, war es zu spät – die Zwangsversteigerung drohte. Jack und seine Frau erlebten den nächsten Schock. Der Wert des Hauses, für das sie vor nicht allzu langer Zeit fast eine Million Dollar gezahlt hatten, wurde nur noch auf die Hälfte geschätzt. Für den Immobilienmarkt galt dasselbe wie für den Arbeitsmarkt, zu viel Angebot, zu wenig Nachfrage. Aber die beiden akzeptierten auch diese Nachricht, sie wären bereit gewesen, das Haus für diesen Preis zu verkaufen, wenn sie damit ihre Schulden losgeworden wären. Nur leider fanden sie keinen Käufer. Nicht beim ersten Versteigerungstermin und nicht beim zweiten, ein dritter kam nicht mehr zustande. Experten beurteilten den Verkauf eines solchen Hauses in einer Gegend, wo jeder Dritte seinen Arbeitsplatz verloren hatte, als aussichtslos. Zu viele Häuser standen bereits leer, in einige waren Obdachlose eingezogen, oder man handelte dort mit Drogen, einige Häuser waren mutwillig zerstört worden, andere abgebrannt. Dem gesamten Viertel wurden keine guten Chancen eingeräumt, man rechnete bestenfalls mit der Entstehung eines Ghettos für Arme und Ungebildete. Einige Politiker forderten sogar, ganze Straßenzüge abzureißen, um den Markt zu bereinigen.
   Jack und seine Frau waren damit natürlich nicht einverstanden. Sie sahen sich nicht als arm und ungebildet an, wollten kein Ghetto in ihrer Heimat entstehen lassen – sie wollten kämpfen. Aber schon stellte sich das nächste Problem ein. Sie konnten die Energiekosten für das große Haus nicht mehr aufbringen, denn der Ölpreis stieg immer weiter. Damit war die Sache erledigt. Sie bestellten die Möbelspedition.  
   Immerhin ein kleiner Hoffnungsfunke leuchtete für sie auf. Von einem ehemaligen Nachbarn bekam Jack einen Arbeitsplatz angeboten. Er sollte die Pflege der elektrischen Anlage eines Casinos übernehmen. Dieses lag zwar in Las Vegas, Hunderte Meilen von seiner Heimat entfernt, doch mangels Alternativen sagte er zu.
   Jack lud den letzten Karton in sein Auto, schloss die Kofferraumklappe, küsste seine Frau und fuhr davon.
   In der Wüstenstadt angekommen, musste er seine Ansprüche abermals herunterschrauben. Die einzige Unterkunft, für die sein Geld reichte, war ein Wohnwagen in einer Vorstadt. Außerdem musste er seine Arbeitsplatzbeschreibung wörtlich nehmen. Er sollte die elektrische Anlage des Casinos nicht überwachen, wie er gehofft hatte, sondern putzen! Irgendwie war es zu einem Missverständnis zwischen ihm und seinem ehemaligen Nachbarn gekommen. Vielleicht hatte sich der Mann am Telefon unklar ausgedrückt, vielleicht wollte Jack aber auch etwas anderes verstehen, als gesagt wurde.
   Trotzdem, Jack gab nicht auf. Er fügte sich in sein Schicksal – vorläufig, wie er dachte. Er hoffte darauf, dass dies nur ein weiterer Schritt auf seinem Karriereweg sei, ein Weg, der ihn bald wieder in eine verantwortliche Position bringen würde. Also ging er ins Casino und sah sich sein Aufgabenfeld an. Kronleuchter. Dafür sollte er zuständig sein. Es waren gewaltige Apparate, bei ihrem Anblick verschlug es Jack den Atem. Jeder Leuchter besaß acht Arme, die aber kaum zu erkennen waren, weil von oben, vom Aufhängungspunkt, Ketten mit aufgereihten Kristallen zu den Armen und einem Metallreifen, der sie umgab, herabführten. Sie bildeten die Hauptebene des Leuchters. Darunter befanden sich zwei weitere Ebenen, ebenfalls mit Lichtern, Reifen und Ketten versehen, den Schlusspunkt setzte eine goldene Kugel, die etwa einen Meter über den Köpfen der Besucher schwebte. Jack schätzte, dass rund vierzig Glühbirnen in jedem Leuchter steckten, davon wiederum verteilten sich vierhundert Stück über die drei großen Säle.
   Es wäre eine schöne Aufgabe für Jack gewesen, sich um die Lichttechnik des Hauses zu kümmern. Das Casino besaß ja nicht nur die Kronleuchter, sondern auch eine Fassade aus riesigen Neonelementen, eine Laser-Show im Theatersaal und Tausende normale Lampen, die in den Fluren und Zimmern installiert waren. Doch leider gab es schon jemanden, der darüber die Aufsicht führte, ein junger Ingenieur mit einem Fachabschluss in Energietechnik. Jack stellte sich ihm vor, gleich an seinem ersten Tag. Der junge Kollege war sehr freundlich, hörte sich seine Geschichte an, machte ihm aber keine Hoffungen auf eine Anstellung in seinem Dienstbereich. Er hatte genügend Mitarbeiter, sie waren allesamt jünger als Jack und verfügten über die notwendige fachliche Qualifikation. Dennoch bat Jack darum, seine Bewerbungsunterlagen einreichen zu dürfen. Schon leicht genervt, versprach ihm der junge Ingenieur, sich die Papiere anzusehen.
   Einstweilen machte sich Jack an seine neue Arbeit. Er wurde einem jungen Pakistaner namens Hamid unterstellt. Auch dieser war jünger als er, deutlich jünger sogar, er hätte sein Sohn sein können, und auch Hamid begegnete ihm wie alle Angestellten des Casinos mit großer Freundlichkeit, obwohl es Jack schwer fiel, seinem Englisch zu folgen. Es war von einem starken Dialekt geprägt, klang ein bisschen wie Schottisch und enthielt Lehnwörter, die er nie zuvor gehört hatte. Hamid musste ihm vieles zwei- oder dreimal erklären, nicht, weil Jack es nicht begriff, sondern weil er die Sätze einfach nicht verstand.
   Nachdem die Einweisung endlich abgeschlossen war, tat Jack genau das, was Hamid von ihm verlangte. Er nahm die Staubwedel und Mikrofasertücher entgegen, für die er eine Quittung unterschreiben musste, und benutzte sie in genau der vorgeschriebenen Weise. Der erste Arbeitsschritt bestand im Reinigen der Glühbirnen. Dazu musste er eine Leiter besteigen, durch die Ketten mit den Kristallen hindurchfassen und die Birnen mit einem Mikrofasertuch abreiben. Danach folgte die Außenreinigung, sämtliche Ketten mussten mit einem Staubwedel sanft abgerieben werden, und zwar von oben nach unten, wie ihm Hamid einschärfte, keinesfalls von unten nach oben, weil sonst bereits gereinigte Partien wieder schmutzig werden könnten. Jack bot an, bei der Gelegenheit auch gleich kaputte Glühbirnen auszutauschen, was Hamid jedoch ablehnte. Dafür waren allein die Mitarbeiter des technischen Dienstes zuständig. Reinigungskräfte durften keine Reparaturen ausführen, die Versicherung deckte eventuell entstehende Schäden nicht ab. Jack schluckte seinen Ärger herunter und putzte weiter.
   Nach einer Woche hatte er seinen Vorgesetzten endlich so weit, dass er ihn unbeaufsichtigt arbeiten ließ, doch schon ein paar Tage später stand er wieder hinter ihm. Hamid überbrachte eine schlechte Nachricht: In einer anderen Gruppe, die das angeschlossene Hotel putzte, waren zwei Mitarbeiter erkrankt. Jack sollte hinübergehen und einen der beiden ersetzen. Zunächst weigerte er sich, beharrte darauf, er sei zur Pflege der elektrischen Anlage des Casinos angestellt, wozu im weiteren Sinne auch die Kronleuchter zählten, nicht aber Hotelzimmer. Hamid hörte sich seinen Protest in Ruhe an und erwiderte mit einem freundlichen Lächeln, Jack könne jederzeit nach Hause gehen, wenn ihm etwas nicht passe. Für einen Moment herrschte Schweigen, Jack hörte das Rauschen der Klimaanlage. Dann nickte er wortlos und schluckte seinen Ärger herunter.
   Jack bekam einen Reinigungswagen, mit Eimern, Putzmitteln und Besen, für den er wieder eine Quittung unterschreiben musste, und ließ sich von Hamid ins Nachbargebäude führen. Es wäre nicht nötig gewesen, er kannte das Hotel bereits – allerdings aus einer anderen Perspektive. Bei seinem ersten Besuch war er mit einem verspiegelten Fahrstuhl hochgefahren, jetzt nahm er den Lastenfahrstuhl. Das Hotel besaß knapp tausend Zimmer, verteilt auf drei Flügel und acht Stockwerke. Alle Zimmer waren im selben Stil eingerichtet, modern, komfortabel, aber auch ein wenig lieblos. In den oberen Stockwerken befanden sich die Suiten für die besonderen Gäste. Jede war unter ein eigenes Motto gestellt, es gab eine arabische Suite, die anmutete wie der Palast eines Kalifen, eine indische Suite, ähnlich gestaltet, nur wie der Palast eines Maharadschas, eine türkische, französische, italienische und japanische Suite, die jedoch allesamt eher den Vorstellungen der amerikanischen Dekorateure und Kulissenmaler entsprachen, als den Kulturen der jeweiligen Länder.  
   Sie begannen mit der arabischen Suite. Hamid zeigte Jack, wie man die echtgoldenen Waschbecken auf Hochglanz brachte. Erst zwei Minuten im Uhrzeigersinn putzen, locker aus dem Handgelenk heraus, dann ebenso lange in der Gegenrichtung. Es war wichtig, die Zeiten präzise einzuhalten. Untersuchungen hatten ergeben, dass auf diese Weise – und nur auf diese Weise – ein optimaler Kompromiss aus Hygiene und Abrieb an der Oberfläche erzielt wurde. Hamid beobachtete Jack beim Putzen, maß die Zeit sogar mit einer Stoppuhr. Bei seinem ersten Waschbecken unterschritt er die Vorgabe um mehrere Sekunden, beim zweiten überzog er sie, erst ab dem dritten war Hamid einigermaßen zufrieden. Er ließ Jack allein, versprach aber, später noch einmal wiederzukommen.
   Jack putzte die Badezimmer in der arabischen und in der venezianischen Suite, dann ging er in die britische Suite hinüber. Sie war im Kolonialstil eingerichtet. Der Gast konnte auf Korbmöbeln Platz nehmen, den Tee vom eigenen Butler servieren lassen, der auch die Zeitung brachte, falls gewünscht sogar gebügelt und in Plastikfolie eingeschlagen, und den etwas störrischen Deckenventilator regulierte. Währenddessen rauchte machte man eine feine Zigarre, betrachtete die Karte des britischen Weltreiches oder bildete sich ein, drüben auf der Plantage würden Sklavenarbeiter den Tabak ernten. Das jedenfalls hatte Jack getan, als er vor drei Jahren in genau diesen Räumen wohnte. Er erkannte alles wieder, den Büffelkopf an der Wand, das Tigerfell auf dem Boden, selbst die Marke der Schokoladentafel, die zur Begrüßung des nächsten Gastes auf dem Tisch lag, war dieselbe wie damals. Und im Badezimmer gab es noch immer diese Fläschchen mit Shampoo, die einen goldenen Verschluss besaßen und deren Beschriftung goldfarben glänzte. Damals hatte er zwei davon mitgenommen, obwohl er sonst nie etwas aus Hotels mitnahm, aber diese Fläschchen waren einfach zu schön.
   Noch einmal rief er sich die Geschichte in Erinnerung. Seine Mitarbeiter und er hatten den Auftrag erhalten, einen Plan zur Verbesserung interner Abläufe zu entwickeln. Weil sie sowohl den Zeit- als auch den Kostenrahmen unterschritten, bekamen sie zur Belohnung einen Gehaltsbonus und ein verlängertes Wochenende in Las Vegas spendiert. Damit verbunden war zwar der Besuch eines Seminars am Freitagvormittag, doch das erwies sich als Proforma-Veranstaltung; sie saßen beisammen, tranken etwas  und hörten einem Dozenten zu, der hauptsächlich seine eigenen Bücher verkaufen wollte. Danach genossen sie ihre Freizeit, Jack, der dicke Jimbo, Doris, Bert und Nathan. Sie spielten in den Casinos, sahen sich eine Show an und gingen essen, sie redeten und lachten miteinander, erst am nächsten Morgen kamen sie ins Bett.
   Es war eine herrliche Zeit damals. Leider ging sie viel zu schnell vorbei. Allen wurde gekündigt, die gesamte Abteilung aufgelöst. Was taten die anderen wohl in diesem Moment? Darüber konnte Jack nur spekulieren. Jimbo hatte eine Stelle bei einem japanischen Autohersteller bekommen und bald darauf wieder verloren. Doris baute inzwischen Klimaanlagen, Bert und Nathan wurden in den vorzeitigen Ruhestand geschickt, der eine lebte in Arizona, der andere in Florida. Sie waren mehr als nur Kollegen gewesen, Jack hatte sie als seine Freunde angesehen. Nun waren sie in alle Winde zerstreut.
   Ganz leise hörte er das Heulen von Düsentriebwerken, die Fensterscheiben dämpften das Geräusch, für ein, zwei Sekunden sah er ein Flugzeug zwischen den Hochhäusern. Es war soeben gestartet und stieg mit vollem Schub in den Himmel auf, einen Rauchschleier hinter sich herziehend. Einen Augenblick später sah er das Flugzeug wieder, nun drehte es Richtung Osten ab, vielleicht flog es nach New York, nach Chicago oder Detroit. Irgendwo dahinten lag der Flughafen McCarran, in einem Stadtteil, der den schönen Namen Paradise trug. Noch ein Stück weiter stand sein Wohnwagen, zwischen einer Schnellstraße und dem Parkplatz eines Supermarktes. Seine neue Heimat. Jack legte das Mikrofasertuch auf die Lehne eines Sessels und verließ die Suite.
Fortsetzung folgt.
Unter diesem Link finden Sie die bisher erschienen Teile.
Der Höllenmaschinist - Teil 11 der Fortsetzungsgeschichte
Sie können natürlich auch das komplette Buch kaufen.
Der Höllenmaschinist - Erzählung
2. Auflage
112 Seiten  Gedrucktes Buch EUR 7,90  E-Book EUR 3,99
Erhältlich u.a. bei Amazon

wallpaper-1019588
LUCK LIFE: Band feiert Europapremiere auf der Connichi
wallpaper-1019588
Wind Breaker: Deutscher Simuldub bei Crunchyroll gestartet
wallpaper-1019588
Kizuna no Allele: Erste Staffel erscheint auf Disc
wallpaper-1019588
Acro Trip: Promo-Video verrät Startzeitraum