Der Höllenmaschinist hatte einen Traum – er schwebte im Raum. Er schwebte frei umher, wie ein flinker kleiner Vogel, rauf und runter, zur Decke hinauf und zum Boden hinab, vom Fenster zur Tür und zum Fenster zurück. Mit jeder Bahn, die er zog, gewann er an Schnelligkeit und Sicherheit, er beherrschte das Handwerk des Fliegens, fand er heraus, mehr noch, er war zum Fliegen geboren, ein Künstler des Fliegens. Und so wagte er sich näher an das Zelt heran, das mitten im Raum stand. Ein wenig bremste er ab, nur zur Sicherheit, denn die Kreise, die er um das silbriggraue Gebilde flog, wurden enger und enger, bis er die Plane schließlich berührte – sie stieß ihn ab. Doch er machte sich nichts daraus, er flog weiter umher, beschleunigte das Tempo, drehte Runde um Runde, bis er die elektrischen Geräte bemerkte, die so lustig blinkten und piepten, und er sprang auf ihnen herum, wie auf einem Trampolin, er nahm ihren Rhythmus auf, jedem großem Sprung folgten zwei kleine, fand er heraus, und wieder drehte er ein paar schnelle Runden, vom Fenster zur Tür, um das Plastikzelt herum, von Gerät zu Gerät, immer rund herum, rauf und runter – das Zimmer verwandelte sich in ein wildes Karussell.
Das Fliegen könnte zu seiner neuen Leidenschaft werden, dachte er sich, seinem Hobby, vielleicht sogar seinem Lebensinhalt. Fliegen machte Spaß, war besser als Autofahren, vielleicht auch besser als Sex, auf alle Fälle besser als bloß herumzuliegen.
Plötzlich vernahm er ein Geräusch, das irgendwie anders war. Es kam nicht von den elektrischen Geräten, es piepte nicht und summte nicht. Es klang tiefer, dumpfer, es klang nach einem Lebe-wesen. Der Höllenmaschinist verlangsamte sein Schweben, hörte genauer hin.
Da war es wieder. Es klang nach einem Röcheln, als ob jemand um Atem rang.
Er hielt an. Das Geräusch wiederholte sich – es kam aus dem Plastikzelt. Ja, es war eindeutig ein Röcheln. Jetzt, da er still und unbewegt im Raum stand, hörte er es klar und deutlich. Und da, ein weiteres Geräusch erklang, drängte sich zwischen das Piepen, Summen und Röcheln, und dieses ähnelte einem Pfeifen. Kein melodisches Pfeifen, eher ein technisches, als ob Luft durch einen Kanal strömte.
Der Höllenmaschinist schwebte näher an das Zelt heran. Die Plane war trübe, bestenfalls halb durchsichtig. Er glaubte, den Körper eines Menschen zu erkennen – obwohl dieser eher einer Mumie glich. Sein Kopf war verbunden, ebenso der größte Teil seines Oberkörpers. Ein Bein und das Becken waren eingegipst, in dem Gips steckten Metallstifte, Schienen verbanden sie miteinander. Der Mensch lag auf einer Matratze – vollkommen regungslos, wie in einem tiefen Schlaf. Umso mehr regten sich die Maschinen, sie pumpten und filterten, überwachten und zeichneten Daten auf. Ein Bildschirm zeigte Werte an, Ziffern blieben stabil oder veränderten sich, Kurvendiagramme stiegen an und fielen ab, Balkendiagramme leuchteten in verschiedenen Farben. Daneben drehten sich Räder, und in einem Glaszylinder blähte sich etwas auf, eine Art Blasebalg. Er blähte sich auf und fiel zusammen, regelmäßig, alle paar Sekunden. Daran angeschlossen war ein Schlauch, der sich unter der Plane hindurchschlängelte und in eine Maske mündete. Ein bisschen sah sie aus wie eine Gasmaske, jedoch in klinischem Weiß gehalten statt militärischem Grün oder Grau. Die Maske bedeckte fast das gesamte Gesicht des Patienten, man konnte nicht einmal sagen, ob sich dahinter die Züge eines Mannes oder einer Frau verbargen.
Er stieß mit den Augen gegen die Plane. Die Haare waren kurz geschnitten, erkannte er, die Arme muskulös, die Schultern breit. Also ein Mann.
Wie alt mochte er wohl sein? An den Stellen, wo das Gesicht weder vom Verband noch von der Maske bedeckt war, sah er ein paar Falten. Nicht sehr tief, aber doch erkennbar. Mitte vierzig, schätzte der Höllenmaschinist, höchstens Ende vierzig. Ein Mann in den besten Jahren. Aber was hatte ihn hierher gebracht? Ein Unfall, ein Verbrechen, vielleicht ein Selbstmordversuch, der nicht glückte?
Der Höllenmaschinist schwebte zum Fußende des Bettes. Dort hing ein buntes Blatt Papier, das Deckblatt einer Krankenakte, dort müsste die Antwort zu finden sein. Er beugte sich tief hinab, las den Namen des Krankenhauses, las viele medizinische Fachbegriffe, die er nicht verstand, und ganz an der Seite, auf einem gelben Aufkleber, war der Name des Patienten vermerkt: Peter Smit.
Entsetzt fuhr er zusammen. Peter Smit! Es war sein Name, der dort geschrieben stand. Es war sein Körper, der dort lag, geschunden und verletzt, hinter Plastik und Verbänden, angeschlossen an Maschinen, die sein Überleben sicherten. Der Höllenmaschinist war verwirrt. Er zitterte, geriet in Schwingungen, daraus wurden Flugbewegungen. Ziellos streifte er umher, vom Bett zur Tür, von der Tür zur Lampe, die er bis dahin noch gar nicht bemerkt hatte, und dann wieder zur Tür und zum Fenster, aber die Verwirrung nahm kein Ende, wurde sogar noch schlimmer.
Angst stieg in ihm auf, große Angst; er fürchtete, außerhalb seines Körpers sterben zu müssen. Darum wollte er sich mit ihm vereinen, doch er kam nicht nah genug heran, wieder war die Plane dazwischen, die ihm plötzlich hart wie eine Stahlwand erschien. Der Höllenmaschinist versuchte es einmal, zweimal, dreimal, immer prallte er ab. Einen Moment lang schwebte er panisch umher, er zog Kreise rund um das Zelt, schwebte sogar über und unter dem Zelt, immer schneller und schneller. Seine Gedanken rasten genauso schnell, er musste etwas tun, einen Weg finden.
Abrupt blieb er stehen. Er hatte etwas entdeckt: Falten. Die Plastikplane schlug Falten über der Matratze, kleine Hohlräume, einen Zentimeter im Durchmesser, vielleicht weniger. Er schwebte hinab, verringerte seinen Umfang auf den eines Strohhalmes, wandte und dehnte sich, und es gelang, er schlüpfte durch die Falten hindurch. Jetzt war er im Zelt, aber dort ging es nicht weiter. Das Problem wiederholte sich, wieder prallte er ab, diesmal von seinem Körper. Er versuchte die Vereinigung, indem er sich auf ihn legte, er wollte von oben hineinschlüpfen, dann von der Seite, sogar von unten, durch die Matratze hindurch. Er kletterte auf das Bettgestell, um in sich selbst wie in einen See hineinzuspringen, er drehte sich wie ein Bohrer, machte sich spitz wie eine Injektionsnadel und hart wie ein Hammer. Nichts klappte, sein eigener Körper wehrte ihn ab. Der Höllenmaschinist machte sich klein wie ein Staubkorn, wollte über die Lunge eindringen – auch das gelang nicht, denn die Atemmaske saß fest auf Mund und Nase, ließ keinen Spalt offen. Er machte sich wieder größer und wollte sie abreißen, aber seine Finger griffen durch sie hindurch, griffen ins Leere. Seine Finger, Hände und Arme bewegten sich, aber sie bewirkten nichts. Er erkannte die Ausweglosigkeit seiner Lage – für den Moment. Aufgeben wollte er nicht.
Fortsetzung folgt.
Entnommen aus:
Der Höllenmaschinist
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