Der gute Mensch

Erstellt am 25. Oktober 2010 von Vincent Deeg
ES BRAUCHT NUR EIN KLEINES LICHT, UM DIE DUNKELHEIT UM UNS HERUM ZU ERHELLEN.(Vincent Deeg)
Es war soweit. Anja und Martin hatten ihr Ziel, den Grenzzaun, das Gespinst aus Stahl und Beton, hinter dem Österreich und damit die ersehnte Freiheit lag fast erreicht. Die aller letzte Möglichkeit, noch einmal neue Kraft zu schöpfen, sich noch einmal zu umarmen, zu Küssen und sich noch einmal Glück zu wünschen. Bevor man diese letzte Hürde nahm oder bei dessen Versuch scheiterte.
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Anja und Martin. Ein junges Paar, das sich schon seit der Schulzeit kannte, das es, wie so viele andere in der DDR endgültig satt hatte, sich noch länger von der verlogenen Partei der SED und deren Schergen tyrannisieren zu lassen und das nun, wie hunderte andere vor ihnen beschlossen hatte, ihre Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen und die DDR, diesen, in ihren Augen menschenverachtenden Staat auf dem illegalem Wege zu verlassen.
Zwei junge und hoffnungsvolle Menschen, die sich, nachdem sie all ihren Verwandten, Bekannten und Kollegen erzählt hatten, ihre Ferien am Ungarischen Balaton verbringen zu wollen auf den Weg machten, um ihren Plan, die Flucht in den Westen endlich in die Tat umzusetzen.
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„Die werden uns kriegen.“ Flüsterte die zwanzig jährige Anja immer wieder, während sie ihrem zwei Jahre älteren Freund Martin verängstigt und am ganzen Körper zitternd in die Augen sah.
Eine Angst, die verständlich war. Wussten sie doch beide aus den Erzählungen anderer, dass es, ganz gleich, ob nun in der DDR oder in Ungarn gefährlich werden konnte, wenn man sich, so wie sie es gerade taten illegal der Grenze näherte. Dass man dort allein der Anwesenheit wegen verhaftet werden und für eine sehr lange Zeit im Gefängnis landen konnte.
Das war eine Gefahr, die natürlich auch an Martin nicht spurlos vorüber ging. Doch im Gegensatz zu seiner Freundin, ließ er sich seine Angst, die mindestens ebenso groß war nicht anmerken. Im Gegenteil. Denn statt sich seiner eigenen Furcht zu ergeben, sah er Anja zuversichtlich lächelnd in die Augen, bevor er sich langsam und lautlos erhob, ihre Hand nahm, sie sanft und mit den Worten „Mach Dir keine Sorgen. Wir schaffen das schon.“ zu sich herauf zog, sie noch einmal fest und innig umarmte und küsste, um sie im Anschluss daran mit schnellen und entschlossenen Schritten in Richtung Grenzzaun zu ziehen.
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Mehr als zwei Stunden sollten damals vergehen, bis jemand für die beiden nächtlichen Tramper, ein Bild, das auch auf den Straßen Österreichs eher ungewöhnlich war, anhielt und sie in die nächste Stadt brachte. Dort, wo Anja und Martin der Polizei von ihrer Flucht berichteten und wo sie sich über die offensichtliche Unfähigkeit der ungarischen Grenzorgane lustig machten, die sie weder entdeckt, noch aufgehalten hatten.
Doch waren diese Grenzorgane wirklich so unfähig, wie Anja und Martin es glaubten? Hatte man sie tatsächlich nur aus dem einen Grunde nicht aufgehalten, weil man sie nicht entdeckte? An einer Grenze, an der vor ihnen und nach ihnen so viele gescheitert und manche sogar gestorben waren.
Eine Frage, die sich das junge Paar, das nun andere, schönere Dinge in den Köpfen hatte zwar auch Monate danach nicht stellt, auf die sie aber doch zwei Jahre nach ihrer Flucht eine Antwort erhalten sollten.
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Es war ein Samstag im Mai, als der Brief sie erreichte. Längst hatte die beiden der Alltag eingeholt, von dem sie sich in ihrer kleinen Wohnung, die sie in einem ebenfalls kleinen Ort nahe der Stadt München gemietet hatten von ihrer arbeitsreichen Woche erholten.
Es war ein Brief von einem Mann, den weder Anja, noch Martin kannte und dessen Inhalt nur verriet, dass dessen Verfasser, der seinem Namen und seiner Adresse nach ein Ungar war, sie um ein Treffen bat, um sie endlich kennen zulernen und um ihnen von einer Geschichte zu erzählen, die sie mit Sicherheit interessieren würde.
Man kann sich sicher vorstellen, was in dem Moment, als sie diesen Brief lasen in Anja und Martin vor sich ging. Dass sie sich natürlich fragten, was das für ein Mann war, woher er von ihnen wusste und vor allem, was das für eine Geschichte sein sollte, die dieser Ungar ihnen zu erzählen hatte. Ein Mann, den sie nicht kannten, der sie aber seinerseits unbedingt kennenlernen wollte.
Ein Moment, der so manchen einen von uns zur Vorsicht aufgerufen hätte. Doch nicht Anja und Martin. Sie waren noch offen gegenüber dem Fremden und zudem viel zu neugierig, als dass sie diesen Brief einfach so ignorieren konnten. Und so kam es, dass sie dem Treffen, das in einem Münchner Café stattfinden sollte einwilligten.
Damals, vor diesem Treffen wussten sie nicht, was auf sie zu kommen würde. Doch als es vorbei war, als sie wieder nachhause fuhren, wussten sie, dass sie dieses Gespräch und diesen bis dahin fremden Mann niemals vergessen würden.
Denn dieser Mann, ein ehemaliger Ungarischer Grenzsoldat hatte ihnen, als sie ihren Schritt in die Freiheit wagten, als sie nach Österreich flohen, als er sie bei ihrer letzten Umarmung beobachtete, als sein damals selbst liebendes Herz es nicht schaffte, dieses junge Paar ins Verderben zu stürzen, als er, statt seine Pflicht zu tun, weder den Alarm auslöste, noch seinem Kameraden, der in diesem besagten Augenblick in eine andere Richtung sah von seiner Beobachtung berichtete, vielleicht das Leben gerettet.
Es war derselbe Mann, der sich, um zu erfahren, was aus den beiden geworden war, nur ein halbes Jahr nach Grenzöffnung auf die Suche nach dem Paar machte, das er damals, in dieser besagten Nacht hat entkommen lassen.
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Eine Geschichte, die schon so viele Jahre her ist, so dass es sein kann, dass einige der Dinge, die damals geschahen inzwischen verblasst sind. Doch das gilt nur für diese Geschichte. Nicht aber für die Dankbarkeit, die die beiden bis zum heutigen Tage für diesen Grenzsoldaten, diesem guten Menschen empfinden. Nicht dafür und auch nicht für die enge und bis heute bestehende Freundschaft, die seit diesem Treffen zwischen Anja, Martin und Bela, der Name dieses Mannes entstanden ist.
Diese Geschichte beruht auf eine wahre Begebenheit. Sie wurde mir von Anja und Martin erzählt.
Alle hier beschriebenen Namen wurden geändert.