Der große Preis für Eures Visionen

Der neue Stadtratsvorsitzende von Eure war noch keine Stunde im Amt, da erließ er schon eine Verordnung, dass ab sofort einmal im Jahr eine ehrenwerte Bürgerin (oder ein ehrenwerter Bürger, fügte er wegen der aufkeimenden Unruhe im Sitzungssaal eilig hinzu) dazu berufen sein sollte, ihre (oder seine, ergänzte er hastig) Vision für eine bessere Welt vorzutragen. Er selbst werde dann unverzüglich zur Tat schreiten und diese Vision umsetzen. Die erfüllte Vision werde allerdings einen ganz eigenen und unter Umständen sehr hohen Preis haben. Man möge sich also gut überlegen ...

An dieser Stelle tuschelten die ehrenwerten Bürgerinnen und Bürger von Eure ü.d.K. (über den Klippen) längst miteinander und achteten nicht mehr auf den neuen Stadtratsvorsitzenden. So entging ihnen das eigentümliche Lächeln ebenso wie das boshafte Aufblitzen seiner Augen, als er die ihm Anvertrauten so traulich kluckend vor sich sah. Als die ehrenwerten Bürgerinnen und Bürger sich nach intensiver Diskussion zu ihm umwandten, war sein Gesicht wieder ernst und sein Blick gesammelt.

„Wer entscheidet, wessen Vision die würdigste ist?"

Die Menge murmelte beifällig, als der alte Pfarrer mit dieser Frage nach vorne trat und sich, alter Haudegen, der er war, breitbeinig vor das Podium stellte. Der neue Stadtratsvorsitzende trat die drei Stufen hinab, näherte sich seinem in der Wahl unterlegenen Kontrahenten und neigte den Kopf so übertrieben zur Seite, dass sein ungewöhnlich langes Ohrläppchen fast die linke Schulter berührte. „Natürlich entscheiden die ehrenwerten Bürgerinnen und Bürger, wessen Vision es wert ist, umgesetzt zu werden." Er packte den alten Pfarrer am Oberarm, so dass dieser ihm folgen musste, bis sie an die beiden einzigen freien Stühle in dem vollbesetzten Raum stießen. „Ich" - und mit diesen Worten drückte er den alten Mann fast sanft auf den Stuhl - „werde entscheiden, welche Vision die würdigste ist."

Die folgenden Monate verbrachten die ehrenwerten Bürgerinnen (und Bürger) der kleinen Stadt Eure ü.d.K. damit, sich über ihre Visionen ins Verhör zu nehmen. Selbstverständlich war die eigene Vision immer ein bisschen besser als die gerade gehörte (eigentlich war sie grundsätzlich deutlich überragender als das dumme Zeug der anderen Leute, aber die Ehrenwerten waren viel zu bescheiden, als dass sie das ausgesprochen hätten). Die eigene Vision wurde je nach Tageslaune und Gesprächspartner ausgeschmückt und nicht selten hörte man sein geistiges Eigentum kurz danach aus fremden Mäulern über die Straßen hallen, was unter unbeherrschteren Gemütern zu ausgewachsenem Rabiatismus führen konnte. Und da bekanntlich im Krieg und im Wahlkampf alle Mittel erlaubt sind, setzte man auch auf die bewährte Zermürbungstaktik der vernichtend subtilen Kritik, damit die anderen nicht etwa aufmüpfig wurden und ihre Visionen (und Urheberrechte daran) selbstbewusst vertraten. Da war Luise dann zu alt, Herbert zu groß, Karina zu blond und Henning zu dünn, um eine intelligente Vision zu aller Besten zu formulieren, und die brave Babette, der nachgesagt wurde, sie kenne alle Bürger (und etliche Bürgerinnen) näher als für die Ehrenwerten gut sein konnte, wurde Opfer aller dieser Beschimpfungen und weiterer Gemeinheiten zugleich. Der alte Pfarrer war der einzige, der einigermaßen unangefochten von der Kanzel herab seine Vision vom Himmelreich auf Erden predigen und seine Schäflein in innigem Amen einen konnte. Natürlich, so vergewisserte er sich im Zwiegespräch mit dem Herrn, würde er in einem solchen Himmelreich bei der nächsten Wahl gegen den neuen Stadtratsvorsitzenden wieder gewinnen.

Kleinere (und, zugegeben, ziemlich banale) Visionen, die die momentane Zufriedenheit und damit auch die Abstimmungsbereitschaft beeinflussen konnten, wurden unter allgemeinem Jubel zügig umgesetzt. Eures Straßen sollten schöner werden, und so begannen die Begabten aller Altersstufen, ihre Visionen an Wänden anzusprühen (aber nicht zu vollenden, weil ja der Tag der großen Entscheidung noch ausstand - nur einen Vorgeschmack wollten sie geben auf künftige Wunderwerke, über deren Würdigkeit dann zu befinden wäre).

Die ehrenwerten Städter legten sogar selbst Hand an, als der kühne und zukunftsweisende Entwurf des einzigen örtlichen Baumeisters den Abriss der alten Stadthalle erforderte. Nach und nach sammelte sich an den Straßenrändern das Gestein aller öffentlichen Gebäude, die später - so die Bürger und der neue Stadtratsvorsitzende es wollten - als preisgekrönte Vision innerhalb eines einzigen Tages in neuer Pracht wieder aufgebaut werden sollten.

Am Tag der Visionsprämierung wurde den Bürgerinnen (und Bürgern) plötzlich bewusst, dass ihre öffentlichen Gebäude nach wie vor in einzelnen Teilen verstreut die Straßen verschönerten. Die Ehrenwerten warfen einander misstrauische Blicke zu, hatten die visionären Fronten sich doch mittlerweile so verhärtet, dass auch die sanftesten Schäfchen ordentlich auskeilten und mit Schuldzuweisungen nicht hinter dem Berg hielten. Als die ersten nach heftigen Wortwechseln schon Steine aufklaubten, erschien zur Rettung ihrer aller Seelenheil der alte Pfarrer mit seinem Gefolge. Der Trupp bahnte sich den Weg durch die Streitenden und schritt gemessen hinauf zu der kleinen Backsteinkirche, die - umgeben von einem noch kleineren Friedhof - wenige Schritte von der Steilküste entfernt darauf wartete, die herandrängende Masse zu beherbergen.

Der Stadtratsvorsitzende wartete schon, schweigend, mit verschränkten Armen gegen die Kante des Altars gelehnt. Scheuen Blicken begegnete er mit einem Lächeln und er rührte sich erst, als auch der letzte still auf seinem Stuhl saß und verlegen an seiner Nagelhaut pulte. Dann stieß er sich vom Altar ab, behielt die Arme verschränkt und ging langsam auf die zu, die dicht gedrängt vor der ersten Reihe der Kirchenbänke auf dem Steinboden hockten und nichts verpassen wollten. Ernst schaute er sie an, riss dann unvermittelt die Arme auseinander, als wolle er die Ehrenwerten symbolisch umarmen, und zwischen einem Blinzeln und dem nächsten verzerrte sich sein Gesicht zu einer Fratze, in der die Anwesenden sich unschwer selbst erkannten. Wimmernd duckten sie sich zusammen, versuchten soweit möglich Schutz hinter den Rücken der vor ihnen Sitzenden zu finden und sich abzuwenden von den Grimassen, die ihre innere Abscheulichkeit spiegelten.

„Nun, ihr Ehrenwerten?" Das hämische Krächzen hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit der honigtropfenden Sanftheit, die der Stadtratsvorsitzende sonst in seine Stimme legte. „Habt ihr entschieden, wessen Vision ihr für preiswürdig haltet?"

Ebenso schnell, wie sich das Gesicht des Stadtratsvorsitzenden verzerrt hatte, war der Spuk wieder vorbei. Er lächelte, wohlwollend, ein bisschen altväterlich jovial. Ein unterschwelliges Unbehagen jedoch blieb, zumal nach wie vor jede Bürgerin (und jeder Bürger) überzeugt war, selbst die beste Vision zu haben. Doch keiner traute sich, das Wort zu ergreifen. Der alte Pastor murmelte: „Der Herr ...", aber selbst dieser alte Haudegen verstummte letztendlich angesichts der Ungeheuerlichkeit der Ereignisse.

Der Stadtratsvorsitzende nickte. „Ja, das dachte ich mir. Niemand traut sich laut zu sagen, dass er der Größte ist und alle anderen für - was? Minderwertig, dumm, überheblich? - hält. Ihr seid so einfach gestrickt, ihr Heuchler," - das letzte Wort kam fast liebevoll und leise wie ein Hauch über seine Lippen, aber gerade deshalb empfanden die Ehrenwerten panische Angst - „mit euren nickeligen Visionen um Geld und Macht und Ruhm, wie sie selbst das Hirn einer Fruchtfliege mühelos erdenken könnte. Nur ein einziger Mensch" - hier flackerte es in seinen Augen und die, die ihm am nächsten standen oder saßen, bemerkten als erste den roten Punkt, der in der Mitte seiner Pupille erschien und wuchs und wuchs und wuchs - „nur eine unter euch hat eine wahrhaft übergreifende, jedes Individuum verändernde Vision. Das ist die Vision, die ich als preiswürdige nenne. Babette! Erhebe dich und sprich!"

Babette selbst schnappte am lautesten von allen nach Luft, aber sie erhob sich hastig und trat vor, ohne die gehässigen Bemerkungen der anderen auch nur mit einem Schulterzucken zu würdigen.

„Ich wünsche mir eine Welt, in der niemand mehr auf Äußerlichkeiten achtet und andere Menschen nach dem verurteilt, was er sieht."

„Das ist eine schöne Vision", raunte der Stadtratsvorsitzende Babette ins Ohr. Trotzdem hörten alle Anwesenden die Worte erschreckend deutlich. „Sie kommt aber mit einem Preis. Einem sehr hohen Preis. Bist du bereit, ihn zu tragen?"

Es kostete Babette sichtlich Überwindung, dem Stadtratsvorsitzenden in seine nun feuerroten Augen zu sehen. Aber sie schaute einigermaßen furchtlos an ihm vorbei und auf den Altar hinter ihm. Sie nickte. Als aus dem Mund des Stadtratsvorsitzenden eine schlangenartige Zunge hervorschoss und ihr Ohr leckte, antwortete sie hastig und für alle hörbar: „Ja", und war sehr dankbar, als der Stadtratsvorsitzende wieder von ihr abließ.

„Ihr habt es gehört", der Stadtratsvorsitzende wandte sich an die Versammlung, „Babette zahlt den Preis." Er beobachtete die Erleichterung auf den Gesichtern und grinste. Sein fauliger Atem schlug den vor ihm Sitzenden die aufkommende Erleichterung schnell wieder aus dem Gesicht. Ihre Augen weiteten sich vor Grauen, als seine Zunge kleine Kunststücke vollführte, die sich nicht mehr auf Babettes Ohr beschränkten, während seine Fingernägel wuchsen, bis sie sich an den Enden einzurollen begannen. Die Leute klammerten sich aneinander und waren dankbar, nicht an Babettes Stelle, sondern noch einmal davongekommen zu sein. In Kürze würde alles vorbei sein. Dann konnten sie in Ruhe entscheiden, was mit diesem Irren geschehen sollte. Das bösartige Flüstern des Stadtratsvorsitzenden riss sie aus diesen Träumen.

„Ihr tut es schon wieder." Seine Stimme klang nun vorwurfsvoll und enttäuscht, als hätten sich seine liebsten Schüler schlecht benommen. Einigen aus der letzten Reihe wurde dieses Wechselbad der Gefühle zu viel und sie versuchten, sich unauffällig aus der Kirche zu schleichen. Doch als ihr Anführer die Hand auf die Klinke legte, riss er sie schreiend wieder zurück und starrte jammernd auf den hautlosen Klumpen, der am Ende seines Armes glühte. Der Stadtratsvorsitzende lachte gellend. Mittlerweile waren auch die Nähte seiner Kleider geplatzt und ein schwäriger Körper drängte durch die offenen Stellen.

„Kommen wir zu dem Preis, den Babette zahlen will - und wird."

Der Stadtratsvorsitzende legte eine dramatische Pause ein und rieb sich die Hände. Als alle reglos saßen und auf ihn starrten wie Mäuse auf die Schlange, fuhr er fort. „Der Preis, ja ... für eine Welt, in der Äußerlichkeiten nicht zählen ... Babette hat eine wundervolle Vision. Ja, wirklich. Sie wird sich allerdings nur erfüllen, wenn keiner mehr auf Äußerlichkeiten achtet."

Alle Anwesenden nickten eifrig, nur Babette sah den Stadtratsvorsitzenden voller Angst an. Während um sie herum die Leute tausend Eide schworen, dass sie nie wieder einen anderen Menschen oberflächlich beurteilen würden, sank sie auf die Knie und schlug die Hände vor ihr Gesicht. Ihr war mittlerweile klar geworden, dass dieser Teufel in der Gestalt eines Stadtratsvorsitzenden keine Gnade kannte. Als um sie herum plötzlich die anderen schrien und panisch wild durcheinander liefen, über sie stolperten und ihnen das Blut aus den leeren Augenhöhlen über die verzerrten Gesichter lief, erhob sie sich wie in Trance und fragte sich, warum es sie noch nicht getroffen hatte.

Der ehemalige Stadtratsvorsitzende, der ja - wie wir nun wissen - alles andere als ein Stadtratsvorsitzender war, kaute fröhlich auf vielen schwarzen Schleiern herum, die ihm in den Rachen flogen und zum Teil erschreckende Ähnlichkeit mit den Bürgerinnen und Bürgern Eures hatten. Ja, es konnten durchaus ihre schwarzen Seelen sein, die dieser Teufel sich einverleibte. Willig - oder vielmehr: ohne erkennbaren eigenen Willen - schlurfte Babette in seine weit geöffneten Arme, die er schnell um sie schloss.

„Kommen wir nun zu dem Preis, den du zahlst. Ich habe da ein bisschen umdisponiert und werde dir erlauben, mich zu begleiten. Du hast mich heute gut gefüttert und ich erwarte, dass du in der Zukunft ebenso erfinderisch bist."

Sprach es, drehte sich mit der halbtoten Babette einmal schnell im Kreis und beide verschwanden. Nur der Seufzer, mit dem Babette sich ihrem Schicksal fügte, hallte von den Kirchenwänden zurück.


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