DER GOLDENE MITTELWEG

Nach einem Streit packt Tom seine Koffer – und Melanie merkt, dass sie schwanger ist …

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Gleich nachdem Melanie die Wohnung betreten hatte, nahm Tom ihr die Reisetasche und den Aktenkoffer ab und schloss sie in die Arme. “Endlich bist du wieder da. Ich liebe dich, Melanie!”

Sie genoss seinen Kuss, dachte glücklich, dass die einwöchige Trennung – sie hatte an einem Weiterbildungsseminar teilgenommen – ihnen gut getan hatte. Toms tiefe Stimme, seine strahlenden Augen und seine Unbekümmertheit liessen ihr Herz schneller klopfen.

Endlich lösten sie sich voneinander. Tom öffnete die Tür zum Wohnraum – und Melanie erstarrte: Der hübsch mit Blumen und Kerzen gedeckte Tisch nahm sich wie eine unwirkliche Insel inmitten von Toms üblichem Chaos aus.

Augenblicklich verwandelte sich die Wiedersehensfreude in Frust und bittere Enttäuschung. Ihre Ermahnungen und Bitten hatten wieder einmal nichts genützt! Sie hatten sich vor einem Dreivierteljahr kennengelernt und sich auf den ersten Blick ineinander verliebt. Als Toms Wohnung kurz danach wegen Eigenbedarf gekündigt wurde, hatte Melanie ihm spontan vorgeschlagen, zu ihr zu ziehen. Es war eben doch ein Irrtum gewesen.

Von weit her drang Toms Stimme an ihr Ohr: “Das Essen ist sofort fertig. Möchtest du einen Aperitif?”

“Thomas”, explodierte sie, “mir ist der Appetit vergangen! Ich hatte dich doch gebeten, vor meiner Rückkehr aufzuräumen!”

Er nahm den Hammer und zwei Schraubenzieher von Melanies Lieblingsessel und wollte sie auf den niedrigen Glastisch legen.

“Das gehört in die Werkzeugkiste, verdammt noch mal!” War das ihre Stimme, die so laut und keifend in ihrem Ohr gellte? Melanie glaubte, ihre Mutter zu hören.

Tom trabte gehorsam los. Es blieben noch seine Bücher überall. Stapel von Zeitschriften, verstreute Kleidungsstücke, Ringe von Kaffeetassen auf dem Glastisch. Und der Computer auf dem Schreibtisch verschwand fast unter einem Wust von Papieren. Tom war Journalist und behauptete, nur in dieser Unordnung arbeiten zu können.

“Ich weiss, ich hätte das Werkzeug wegbringen sollen”, erklärte er reumütig.

“Das Werkzeug?” Melanie lachte bitter auf. “Überall liegt was rum! Deine Unordnung ist wie … die Pest, sie breitet sich überall aus. So kann ich nicht leben, Tom!”

Er sah sie fassungslos an, dann drehte er sich um, ging ins Schlafzimmer und holte seine Koffer vom Schrank: “Ich befreie dich von meiner Gegenwart”, rief er Melanie zu.

“Typisch. Statt dich zu bessern, gehst du! Und wo willst du hin?”

“Ich finde schon ein Hotel.”

“Warum kannst du bloss nicht ordentlicher werden?”

“Willst du wissen, wie die Wohnung aussieht, wenn du aufgeräumt hast? Langweilig und seelenlos. Wenn ich schon an diese aufgereihten Sofakissen mit dem Knick in der Mitte denke …” An der Tür drehte er sich noch einmal um: “Den Rest hole ich, sobald ich kann. Und – danke, Melanie, dass du mich so lange beherbergt hast.”

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Ein Baby”, dachte Melanie niedergeschmettert, als sie die Arztpraxis verliess. Wo sollte sie die Zeit hernehmen für ein Kind? Sie arbeitete als Sekretärin in einem Projekt-Team. Ein Zehnstundentag war keine Seltenheit.

Mehr als einmal hatte sie den Hörer in der Hand, um einen Termin für eine Schwangerschaftsunterbrechung auszumachen. Jedesmal legte sie wieder auf.

Von Tom hatte Melanie nichts mehr gehört. Sicher war es besser so. Sie würde schon eine nette Tagesmutter finden. Und sie würde es schaffen. Es war eine Frage der Organisation, und darin kannte sie sich aus. Nur einmal in ihrem Leben, mit Tom, hatte sie sich auf ein Herzensabenteuer eingelassen – und es war promt schiefgegangen.

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Melanie merkte schnell, dass auch das Kind, das in ihr wuchs, ein Herzensabenteuer war. Es liess sich nicht vergessen. In den ersten drei Monaten war ihr jeden Morgen übel gewesen. Und jetzt brachte sich das Baby mit temperamentvollem Strampeln in Erinnerung.

Eines Abends sprach Melanie wieder einmal zärtlich mit dem Kind und ertappte sich bei dem heissen Wunsch, Toms grosse, warme Hand auf ihrem Bauch zu spüren, sich mit ihm zu freuen, wenn das Baby strampelte. Sie musste daran denke, wie glühend Tom sich Kinder wünschte.

Sie stand auf und ging in dem tadellos aufgeräumten Wohnzimmer umher. Seit Tom fort war, lag nichts mehr herum. Die Kissen waren ordentlich auf dem Sofa aufgereiht, kein Kaffeering verunzierte den Glastisch.

Ehe sie wusste, was sie tat, legte sie Bücher und Zeitschriften auf den Couchtisch, stellte zwei Gläser dazu. Dann ging sie zum Schreibtisch und wuchtete Toms alte Schreibmaschine darauf, die seinem Grossvater gehört hatte. Seltsam, dass er sie vergessen hatte, denn Tom hing an diesem Erinnerungsstück. Dann betrachtete sie das Ergebnis. Kein Zweifel, so sah es lebendiger aus.

Es klingelte.

Melanie drückte auf den Knopf der Sprechanlage: “Ja bitte?”

“Ich bin’s, Tom. Ich wollte meine Schreibmaschine abholen. Das heisst, wenn du sie noch hast.”

Besorgt und mit einem Ziehen im Herzen stellte sie fest, dass er abgenommen hatte. Tom dagegen starrte auf ihren Bauch.

“Melanie, ist das …?” seine Stimme klang rauh.

“Ja, Tom, es ist unser Kind.”

“Warum hast du mir nichts gesagt?”

“Ich hatte deine Adresse nicht.”

“Ich Dummkopf! Ich Egoist!” In der Tür zum Wohnzimmer blieb er wie angewurzelt stehen. “Lebst du mit jemandem anderen zusammen?” Der ganze Schmerz, den er empfand, lag in seiner Stimme.”

Verwundert sah Melanie ihn an, dann begriff sie und lächelte. “Nein, ich übe nur ein bisschen Unordnung. Für das Kind. Ich will nicht so werden wie Mama, bei der man vom Fussboden essen konnte, aber bei der sich niemand so recht wohl fühlte.”

Tom räuperte sich: “Melanie, die Schreibmaschine war nur ein Vorwand. Ich bin gekommen, weil ich dich liebe. Ich hab mich sogar nach deinen Sofakissen mit dem Knick gesehnt. Und ich hab Ordnung geübt. Ich glaube, ich hab’s jetzt raus.”

Sie lachte leise. “Hoffentlich nicht zu sehr. Ich habe nämlich begriffen, dass der goldene Weg ein Mittelweg ist.”

“Wollst ihr mich denn, du und das Baby?”

Als Melanie strahlend nickte, nahm er sie vorsichtig und unendlich zärtlich in die Arme: “Was meinst du, können wir die Sofakissen etwas zerknuddeln?”

“Aber ja, wir können” lächelte sie fröhlich.

ENDE


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