Der Glühwei(h)nachtsmarkt

Es ist ein Tag vor Heiligabend und die Freundin und ich kommen auf die naive Idee, schnell noch die letzten Besorgungen vor dem nahenden Weihnachtsfest zu erledigen. Als sei dies nicht schon lebensfremd genug, entscheiden wir uns, dieses Vorhaben in der nahegelegenen Fußgängerzone in die Tat umzusetzen.

Dort befindet sich nämlich ein Weihnachtsmarkt. Meine Begeisterung für Weihnachtsmärkte hält sich stark in Grenzen, denn sie sind meistens grell, laut und hektisch, treiben einen in den finanziellen Ruin und bei dem ständigen Weihnachtslied-Gedudel wünscht man sich einen kräftigen Tinnitus, nur um von den immer gleichen tumben Melodien abgelenkt zu werden.

Weihnachtsmarkt. Ort der trügerischen Idylle.

Weihnachtsmarkt. Ort der trügerischen Idylle.

Die Kinder dagegen sind enthusiastische Weihnachtsmarkt-Fans. Sie können gar nicht genug bekommen von den vielen Fahrgeschäften, den unzähligen Fress-Buden und den spannenden Verkaufsständen. Kaum ist der Weihnachtsmarkt in Sichtweise, fragt die Tochter schon, ob sie und der Bruder Karussell fahren dürfen. Die Freundin und ich schütteln sofort synchron den Kopf.

Tochter: „Die Oma hat es uns gestern aber erlaubt.“
Ich: „Das ist das Privileg der Omas.“
Tochter: „Was ist ein Pravileg?“
Ich: „Ein Privileg ist das Recht, etwas zu tun, was andere nicht dürfen.“
Tochter: „Ist es dann dein Pravileg, total spießig zu sein und immer alles zu verbieten, was Spaß macht?“

Diese durchaus scharfsinnige, aber mich in keinem guten Licht erscheinen lassende Einschätzung kann ich selbstverständlich nicht auf mir sitzen lassen. Steuere daher den nächsten Bankautomaten an und hebe einen stattlichen Geldbetrag ab, wobei ich den vorweihnachtlich stark in Mitleidenschaft gezogenen Kontostand ignoriere. Die Maschine blendet mir eine Werbung für einen Sofortkredit von 3.000 Euro ein. Bezweifle aber, dass diese Summe für einen Weihnachtsmarktbesuch ausreicht.

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Der Sohn möchte als erstes mit der Spaß-Bahn fahren. Dabei handelt es sich um einen kleinen Zug mit fünf kleinen Waggons, der sich auf einem knapp 20 Meter langen Rundkurs im Schneckentempo im Kreis bewegt. Eine Unternehmung so aufregend wie ein Mühle-Turnier im Seniorenheim. Dennoch möchte der Sohn, dass ich ihn und die Tochter begleite.

Frage an der Kasse, ob ich mitfahren könnte. Der Kassierer nickt mürrisch mit dem Kopf und verlangt für die drei Fahrkarten einen Preis, der mich zu der Frage animiert, ob ich damit Mehrheitsteilhaber der Bahn werde. Der Mann schaut mich finster an und knurrt etwas Unverständliches in einer mir unbekannten osteuropäischen Sprache an.

Gehe zu der Bahn und zwänge mich in den letzten Wagen am Ende des Zuges. Tochter und Sohn nehmen im Wägelchen vor mir Platz. Die Lokomotive startet. Beziehungsweise sie versucht zu starten. Sie ächzt und stöhnt und kämpft, kommt aber keinen Millimeter vom Fleck. Anscheinend bin ich zu schwer für die arme Lok. Womöglich ist dies auf meine spezielle vorweihnachtliche Ernährung zurückzuführen, die größtenteils aus Plätzchen, Christstollen und Dominosteinen besteht.

Unter den anderen Eltern, die ihre Kinder in die Bahn gesetzt und ihre Smartphones gezückt haben, um dieses einzigartige Ereignis in Bild und Ton festzuhalten, breitet sich allmählich Unruhe aus. Sie fürchten, ihr Nachwuchs könnte um seinen Fahrspaß gebracht werden. Mit kaum unterdrückter Feindseligkeit schauen sie mich an.

Es steigert meine Popularitätswerte nicht gerade, als der Kassierer quer über den Platz brüllt, der „zart gebaute junge Mann“ mit dem Bart sei zu schwer und solle gefälligst aussteigen. Die umstehenden Eltern nicken zustimmend. Schwinge mich mit der Eleganz eines schwangeren Nilpferds aus dem Wägelchen, das einen Stoßseufzer der Erleichterung ausstößt.

Geselle mich zur Freundin und die Fahrt geht endlich los. Tochter und Sohn winken uns jedes Mal, wenn Sie an uns vorbeikommen, fröhlich zu. Gönne mir derweil zur Überwindung meines Bahn-Traumas einen Glühwein und einen Crêpes. Mit Nutella. Von nichts kommt schließlich nichts. Im Hintergrund singt Rolf Zuckowski von der Weihnachtsbäckerei, um mich höhnisch an die vielen verputzten Plätzchen der letzten Wochen zu erinnern. Der blöde Singaffe!

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Nachdem die ausgelassene Zugreise vorbei ist, gibt es auch für die Kinder Crêpes. Mit strahlenden Augen als sei heute schon Weihnachten verputzen die Kinder ihre französischen Pfannkuchen. Ihre Freude dokumentieren sie mit großflächigen Schokospuren im Gesicht und der Sohn mit Nutellaflecken auf der (noch) gelben Jacke.

Da ihr kalt ist, kauft sich die Freundin ebenfalls einen Glühwein. Damit sie nicht alleine trinken muss, genehmige ich mir auch noch einen. Tochter und Sohn bekommen einen Kinderpunsch. Die roten Flecken harmonieren sehr gut mit dem neuen Schokomuster auf der Jacke des Sohns.

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Die Tochter möchte nun zum Ponyreiten. Der Sohn zieht es vor, das Schauspiel von außen zu beobachten. Erwerbe ein paar Billets zu einem Preis, der die Haferversorgung für die Pferde bis zum Ende des Jahres sicherstellen sollte. Der Kassierer schiebt mir die Plastik-Chips mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit, Missmut und offener Ablehnung rüber. Seine Abscheu gegenüber Kindern scheint nur von seinem Hass auf Tiere überboten zu werden.

Kaum sitzt die Tochter auf ihrem Pony, fürchtet sie sich und will, dass ich neben ihr herlaufe. Klettere mit einiger Mühe und slapstickhaften Bewegungen, die an einen Dick & Doof-Sketch erinnern, über die Absperrung. Das Pony schaut mich ängstlich an. Es denkt befürchtet wahrscheinlich, dass sich der voluminöse tollpatschige Mann auf seinen Rücken schwingen möchte. Tätschle ihm beruhigend die Nüstern, das Pony äpfelt erleichtert auf den Boden.

Habe nach vier Runden Ponyreiten einen veritablen Drehwurm vom ständigen im Kreis laufen, wobei die beiden Glühwein ihr Übriges tun. Darüber hinaus nervt die ‚Band Aid‘, indem sie permanent fragt, ob ich wüsste, dass es Weihnachtszeit sei. Sonst würde ich mich wohl kaum auf einem Weihnachtsmarkt befinden, ihr Vollpfosten!

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Locke die Tochter vom Pferd, indem ich ihr einen kandierten Apfel verspreche. Der Sohn möchte eine Schokobanane. Sein Anorak verwandelt sich allmählich in eine modische Camouflage-Jacke. Hoffe, dass wir ihn im Weihnachtsmarkt-Getümmel nicht verlieren, da er bei seiner Tarnung nur schwer in der Menschenmenge auszumachen ist.

Trinke unter den leicht irritierten Blicken der Freundin einen weiteren Glühwein in der anatomisch irrigen Hoffnung, dadurch meine kalten Füße aufzuwärmen. Der Schuss Rum, den ich mir nachgießen lasse, dringt ebenfalls nicht zu meinen Zehen vor. Im Hintergrund singt George Michael davon, dass er zum letzten Weihnachtsfest sein Herz leichtsinnig an die Falsche verschenkt hat. Leichte Übelkeit macht sich in meinem Magen breit.

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Tochter und Sohn steuern zielstrebig das Karussell an. Der Kassierer hat anscheinend das Trauerspiel an der Bimmelbahn beobachtet. Er gibt mir ungefragt zu verstehen, dass ich nicht mitfahren dürfe. Dabei murmelt er etwas von zulässigem Höchstgewicht, Überforderung des Motors und damit verbundenem finanziellen Ausfallrisiko. Soll mir nur recht sein. So kann ich das gesparte Fahrgeld in einen weiteren Glühwein investieren.

Die Kinder setzen sich derweil in ein Feuerwehrauto. Runde um Runde fahren sie vor Freude juchzend an uns vorbei. Passenderweise singt dazu Chris Rea, der ja auch schon seit mehr als 25 Jahren orientierungs- und erfolglos versucht, an Weihnachten nach Hause zu gelangen. Und das bei den stetig steigenden Benzinpreisen. Schlimm!

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Der Glühwein macht Lust auf Süßes. Kaufe an einem Stand eine Tüte gebrannter Mandeln. In der Bude steht ein kleiner altersschwacher CD-Player, aus dem es scheppernd erklingt: „Süßer die Glocken nie klingen.“

Beim Verzehr der ersten Mandel beschleicht mich das Gefühl, dass sämtliche Füllungen aus meinen Zähnen gezogen werden. Mein Zahnarzt singt dazu: „Süßer die Kasse nie klingelt.“ Ein weiterer Glühwein hilft, den Zahnschmerz zu betäuben und die Gedanken an den Zahnarzt zu vertreiben.

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Unsere Geldvorräte neigen sich allmählich dem Ende gegen. Aber der Glühwein stimuliert mein kreatives Potenzial und ich habe eine Eingebung, wie wir die prekäre Kontosituation mit dem weihnachtlichen Geschenkzwang in Einklang bringen können. Schlage der Freundin vor, an der Losbude für zehn Euro Lose zu kaufen und die zu erwartenden Preise unter der Familie und den Freunden zu verteilen. Sie ist allerdings nicht restlos von der Idee überzeugt und weist darauf hin, dass es sich bei allen Gewinnen um minderwertige Plastikware handelt, die wir unmöglich verschenken könnten.

Benebelt vom Glühwein lasse ich ihre durchaus rationalen und nachvollziehbaren Argumenten nicht gelten. Die Kinder sind auf meiner Seite und somit ist die Freundin überstimmt. Kaufe mit großer Zuversicht 20 Lose. Der Budenbetreiber ist begeistert und wünscht mir viel Glück. Dabei lacht er voller überschäumender Fröhlichkeit.

Während wir eine Niete nach der anderen öffnen, trällert Mariah Carey ihr Nerv tötendes „All I want for Christmas is you“. Frau Carey mag sich an immateriellen Geschenken erfreuen, unsere Verwandtschaft wird sich damit nicht zufrieden geben.

Das neunte Los beschert uns endlich einen Gewinn: einen Stoffhund mit gesundheitsgefährdend hohem Synthetikanteil. Los Nummer zehn bringt uns einen Gummi-Dinosaurier ein, dessen Anteil an weichmachenden Phthalaten die gesetzlich erlaubten Höchstgrenzen um ein Vielfaches übersteigt. Bin dennoch zuversichtlich, dass sich mein Bruder über den Plaste-Dino freuen könnte. Die Freundin schüttelt den Kopf.

Lose elf, zwölf und dreizehn sind wieder Nieten, dafür gewinnen wir mit dem vierzehnten Los einen anmutigen Porzellan-Engel. Sehe vor meinem geistigen Auge, wie meinen Eltern beim Auspacken des Präsents Tränen der Freude in die Augen schießen.

Bei den restlichen Losen haben wir drei weitere Nieten und noch drei – in meinen Augen – akzeptable Gewinne: einen asiatischen Papierfächer, eine Stoffblume sowie eine CD mit Weihnachtsliedern aus dem Erzgebirge.

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Unser restliches Geld ausgebend feiere ich den Losbuden-Erfolg mit Glühwein. Die Kinder bekommen warmen Apfelsaft, der auf der Jacke des Sohnes nicht so auffällt. Die Freundin trinkt in ihrer wachsenden Verzweiflung eine Feuerzangenbowle.

In meiner Hosentasche finde ich zu meiner Freude doch noch einen Fünf-Euro-Schein. Beschließe, der Freundin davon ein Geschenk zu besorgen und schicke mich an, ihr ein paar ästhetisch fragwürdige aber sehr bequem ausschauende gestrickte Strümpfe zu kaufen. Energisch versucht die Freundin, mich von dem Erwerb der Wollsocken abzuhalten und betont mehrfach, dies sei wirklich nicht nötig. Lasse mich davon aber nicht beirren. Schließlich ist die Weihnachtszeit die Zeit des Gebens und nicht des Nehmens. Die Freundin sieht das genauso und verweigert die Annahme der Socken.

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Bevor ich weiteren Schaden anrichten kann, besteht die Freundin darauf, dass wir nach Hause gehen. Die restlichen Besorgungen könne sie auch noch morgen Vormittag erledigen.

Auf dem Heimweg kauft die vorausschauende und fürsorgliche Freundin in der Apotheke Kopfschmerztabletten. Ich warte vor dem Laden und singe fröhlich: „All I want for last Christmas is driving home to the Weihnachtsbäckerei”. Die Kinder halten respektvollen Abstand und geben vor, mich nicht zu kennen.


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