Der Glaube des Maiglöckchens


Der Glaube des Maiglöckchens
"Nicht der ist ein großer Mann, der Kriege anzettelt, sondern derjenige, der seinen Kindern hilft, ihren eigenen Weg zu gehen und die eigenen Fähigkeiten und Talente zur Blüte zu bringen."
Alexander Rykow

Der Glaube des Maiglöckchens

www.wdr3.de

Ihr Lieben,

heute möchte ich Euch eine Geschichte von A.W. von Czege erzählen:


"Maiglöckchens Traum"

"Das Maiglöckchen wohnte unter dem schönen Ahorn, der am Rande der Engelslichtung stand. Es war recht gut mit ihm befreundet. An heißen Sommertagen bedeckten die Äste des Ahorns es mit weichem Schatten und wenn der Winter tobte, lag seine schlafende Knolle warm und geschützt zwischen den mächtigen Wurzeln des Baumes. 

Aber im Mai, als der Frühling seine ganze Pracht über den Wald ergoss, entfaltete Maiglöckchen seine winzigen, weißen Schellen und jeden Morgen bei Sonnenaufgang und jeden Abend, wenn die langgezogenen Schatten auf der Engelslichtung sich entfärbten, läutete es mit leisem Seidenton und der Ahorn horchte auf und freute sich, dass er nicht allein stand. 

Doch eines Nachts kam über das kleine Maiglöckchen ein böser Traum. Es war eine schwüle, verzauberte Sommernacht. Gespenstisch öffneten die Sterne ihre Augen. Es war ganz windstill. Nicht einmal ein Lüftchen wehte, und doch zitterte das Laub, wie vom Fieber geschüttelt, kein Tropfen Tau fiel vom Himmel. Unter den durstigen, schwitzenden Bäumen huschten böse Schattenkobolde herum. Es war eine ganz schlimme Sommernacht. Geheimnisvolle Geräusche waren zu hören. Unverständliche Seufzer kamen aus dem Walde. Die Nacht hatte wirklich etwas Unheimliches. 
Das Maiglöckchen träumte vom Sturm. Ein entsetzliches Gewitter zog durch seinen Traum. Es krachte und donnerte überall, und Bäume fielen auf Bäume. Wütende Windgeister klammerten ihre riesigen Krallen um den Ahorn und warfen ihn zu Boden. Der Ahorn schrie, ein Schauder durchlief das Maiglöckchen bis zu den Wurzeln hinab und es erwachte. 

Der Glaube des Maiglöckchens

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Stille herrschte ringsherum. Eine unheimliche, schwüle Stille. Gegen Osten dämmerte es schon gelblich. Es war kein Tropfen Tau an diesem Morgen gefallen. Die Luft war wie ausgetrocknet. Langsam hob die Sonne ihr rotes Gesicht. Der Wald atmete tief und verschlafen. Matt öffneten die Bäume ihre Augen.
"Was hast du denn?" Der Ahorn sah zum Maiglöckchen hinunter. "Du siehst heute so blass aus? Und läutest gar nicht, wenn die Sonne kommt?"  "Oh, verzeih", antwortete Maiglöckchen etwas verworren, "ich habe ziemlich schlecht geschlafen. Es war alles so trocken."
"Ja", sagte der Ahorn, "es war allerdings eine unangenehme Nacht. Es ist etwas in der Luft, was mir nicht gefällt. Es kommt was. Hast du nichts Böses geträumt? Ich habe so ein schlimmes Gefühl. Ich weiß nicht was es bedeutet, aber mir ist so seltsam zumute. Es kommt etwas Schlimmes..." 
Das Maiglöckchen schauderte wieder zusammen."Aber nein", sagte es gezwungen, doch die kleinen Schellen fröstelten fiebrig, "was sollte denn kommen? Es hat nicht getaut, das ist das ganze. Schön Guten Morgen!""Guten Morgen!" lachte der Ahorn erleichtert auf, "wahrhaftig, ich habe Dich noch nicht einmal begrüßt!" 
Der Vormittag ging vorüber wie immer. Der Brummer surrte vorbei, dann kamen die Waldbienen und holten ihren Honig ab. Der kleine, weißblaue Schmetterling, der oben auf dem Ahorn wohnte, kam herunter, tanzte ein wenig im Sonnenschein und flog dann auf die Wiese hinaus. 

Der Glaube des Maiglöckchens

Quelle: Romana Huber

Aber es lag doch etwas in der Luft. Etwas Düsteres. Etwas Unheimliches. Es war alles so trocken und heiß. Nicht einmal ein Lüftchen war zu spüren. Etwas lag doch in der Luft, aber niemand sprach davon.
Gegen Mittag kam plötzlich etwas von Westen her. Ein Geräusch. So leise, dass man es kaum wahrnehmen konnte. Und doch horchten alle Bäume auf. Ja, man konnte es nicht verwechseln: es war das Geräusch des Gewitters. Die Tannen oben sahen es schon und murmelten versöhnende Waldgebete, die vor Unheil schützen. Erblassend sahen sich die Bäume an und schwiegen. 
Bleischwarze Wolken drängten sich aus dem Westen vor. Es war nichts zu machen. Ein jeder wusste, was zu wissen war. Die Köpfe neigten sich. Der Wald wartete auf sein Schicksal.
Der erste Wind kam angepfiffen. Sausend jagten seine Brüder hinterher, mit knallenden Feuergeißeln trieben sie die donnernde Wolkenherde vor sich her. Die Bäume stöhnten auf. Stämme krachten, Wurzeln bebten, unsichtbare Gespenster durchfurchten den Wald mit eisernen Krallen. Äste brachen schreiend ab Wurzeln zerrissen. Es war die Stunde des Grauens, des Entsetzens, des Todes. 
Das Maiglöckchen lag blass an die Erde gedrückt. Es zitterte vor Angst und betete leise. Der Regen peitschte seine Blätter* aber es spürte nichts davon. Es betete für seinen Freund, den Ahorn.
Der Ahorn kämpfte mutig. Wieder und wieder richtete er sich auf, sein Stamm sträubte sich gegen den unsichtbaren Feind. Wie zerfetzte Fahnen brausten seine Blätter im Winde. Es war ein Wunder zu sehen, wie der Ahorn dort auf der Lichtung kämpfte. 
Doch neue und immer neue Windstöße kamen. Die Sehnen platzten unter den Rinden. ein fürchterlicher Krach durchbrach plötzlich das Heulen des Gewitters und der schöne Ahorn brach zusammen.
Das Maiglöckchen schrie vor Entsetzen auf: "Ich halte dich! Ich halte dich!" Aber er lag schon am Boden."Warum bin ich nicht stärker", weinte das kleine Maiglöckchen, "oh, warum bin ich nicht stärker, dass ich Dir helfen könnte!""Weine nicht", stöhnte der arme Ahorn und lächelte doch leise, "es ist alles nicht so schlimm, wie man denkt." 
Das Gewitter ging tobend vorüber. Der Wald sah aus wie ein Trümmerfeld. Und auf der Engelslichtung lag schweigend der Ahorn und erwartete den Tod.Traurig stand das kleine Maiglöckchen neben ihm. Aus seinen Blüten tröpfelten silberne Tränen hervor. Und es wurde Abend. 

Der Glaube des Maiglöckchens

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Als die Farben im Grau der Dämmerung verschwanden, klingelte es leise und fragte:"Hörst du mich noch, lieber Ahorn? Hörst Du mich noch läuten?" "Ich höre Dich noch", flüsterte der Ahorn. "Gute Nacht, kleines Maiglöckchen, schlafe gut. Gott behüte Dich.""Gute Nacht, lieber Ahorn. Schlafe gut. Schlafe gut.""Weine nicht", bat der Ahorn, "weine nicht..." 
"Ich weine nicht", sagte das Maiglöckchen. Und dann schwiegen alle beide.Langsam ging die Nacht vorüber. Langsam wanderte der Mond über den Himmel. Die kranken Bäume stöhnten. Das Maiglöckchen konnte nicht einschlafen. Es musste immer an den Ahorn denken und weinte die ganze Nacht durch. 
Als die Sonne über dem Berge aufstieg, läutete es. Schön und leise läuteten seine kleinen, weißen Blüten, so leise und so traurig, dass alle, die es hörten, zu weinen begannen. "Hörst du mich noch, lieber Ahorn, hörst du noch mein Läuten?"Und der Ahorn wachte aus seiner Ohnmacht noch einmal auf und flüsterte ihm leise zu: "Ich höre Dich noch, kleines Maiglöckchen... Guten Morgen..., sei aber nicht so traurig...!" "Ich bin gar nicht traurig", und es schüttelte schnell seine Tränen ab, "ich habe so etwas Schönes geträumt!" 
"Erzähl es doch", flüsterte der Ahorn, "ich höre noch...""Ja, ich habe etwas Wunderbares geträumt", erwiderte das Maiglöckchen, "und was ich träume, das geschieht auch immer! Ich habe geträumt, dass Du wieder gewachsen bist!" 
"Wirklich?" wunderte sich der Ahorn."Ja, ja! Neu bist du gewachsen, und eben so hoch und schön, wie früher!
"
Glaube daran! Glaube fest daran!"
Der Ahorn flüsterte noch etwas, aber es war schon nicht mehr zu verstehen."Tot ist er", sagte der Brummer, der eben vorüberflog."Tot ist er", sagten die Waldbienen, die ihren Honig abholten. "Er wird wieder wachsen", sagte das Maiglöckchen entschlossen, "er muss wieder wachsen!"
Und es kümmerte sich nicht um den Brummer und nicht um die Bienen. Nicht um die Schmetterlinge und nicht um den Wald und nicht um die ganze Welt. Es dachte an nichts anderes, nur dass der Ahorn wieder wachsen würde. 
Jeden Abend und jeden Morgen läutete es und begrüßte leise seinen Freund. Der antwortete nicht mehr. Stumm lag er da, und seine Blätter verwelkten langsam."Er lebt nicht mehr", sägten auch die Bäume ringsherum. 
Aber das kleine Maiglöckchen hörte gar nicht zu. Es betete und läutete vor dem stummen Rumpf und flüsterte ihm Tag und Nacht das Gleiche zu: "Du musst wieder wachsen! Du musst wieder wachsen!"
Und eines Morgens geschah das Wunder. Aus dem kahlen Strunke hob sich ein kleiner Sprössling empor, sein grüner Kopf lächelte fröhlich in der Morgensonne und er sagte:

"Guten Morgen, Maiglöckchen! Dein Traum hat mich wirklich nicht verlassen!"' Das kleine Maiglöckchen sah lachend seinen auferstehenden Freund an und läutete, läutete feierlich."

Der Glaube des Maiglöckchens

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Ihr Lieben,

Immer wenn ich Eltern mit ihren Kindern oder Großeltern mit ihren Eltern treffe, dann wünsche ich mir, dass diese auch so einen festen Glauben an die Fähigkeiten ihrer Kinder und Enkelkinder haben wie dieses Maiglöckchen.

Das eigene Kind zu ermutigen, seinen eigenen Weg zu gehen, zu ihm zu halten, auch wenn alle Anderen dem Kind nichts zutrauen, ihm zu vertrauen und ihm zu helfen, die eigenen Fähigkeiten und Talente zur vollen Blüte zu bringen, das ist das Beste, das wir neben tiefer Liebe unseren Kindern und Enkelkindern schenken können.
Und dann kann es geschehen wie bei mir, dass aus einem sterbenden Ahorn ("Forneberg, aus Dir wird nie etwas!") durch die Liebe anderer Menschen ein Sprössling der Freude, der Zuversicht und Hoffnung erwächst.

Der Glaube des Maiglöckchens

Mein Lieblingsfoto von Helmut Mühlbacher
Bitte auf den Regenbogen als Zeichen der Hoffnung im Hintergrund achten!

Ihr Lieben,
Ich wünsche Euch morgen einen Tag der Ermutigung und ich grüße Euch ganz herzlich aus Bremen
Euer fröhlicher Werner
Der Glaube des Maiglöckchens

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