Mit Camus könnte man sagen, dass da der konservative Deutsche in die Revolte eintrete. Und zwar in die metaphysische Revolte, in einen Aufstand gegen das Gemachte und Finale. Wir müssen uns vielleicht Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Den Meier oder Müller hingegen als traurige und unglückliche Gestalt, die Felsen händisch wälzt, wo der Lastenaufzug schon längst erfunden wurde. Er findet sich mit den Entwicklungen, die die moderne Welt generiert, nicht ab, erklärt für gescheitert, was gar nicht mehr zur Bewertung taugt, weil es hinzunehmen ist. Richard David Precht sagte kürzlich, dass die Globalisierung eben nicht abgeschottet zu haben sei und uns die Flüchtlinge »Willkommen im Leben« entgegenrufen. Dem kann man nur zustimmen. Multikulturalität ist kein Gesprächsgegenstand, über den man noch in dem Sinne befinden könnte, ob wir das wollten oder eben nicht. Sie ist das Los dieser Erde, die Durchmischung von Völkern und Nationen ist die logische Folge einer Welt, die sich vernetzt und sich so zu einem größeren Dorf entwickelt hat.
Der Kultursoziologe Arjun Appadurai distanzierte sich schon in den Achtzigerjahren von der klassischen marxistischen Bewertung, dass Waren alleine die Determinanten sozialer und gesellschaftlicher Verhältnisse seien (»The Social Life of Things«). Auch Dinge seien selbst Akteure. Auf die globalisierte Welt gemünzt, ergibt diese These, dass es eben nicht nur die Infrastruktur ist, die »um die Welt geht«, sondern auch die Suprastruktur, der Bereich der Ideen und Formen. Das ist ein Grund für die Zukunftsträchtigkeit multikultureller Gesellschaften. Wer glaubt, dass Globalisierung nur bedeutet, einfach Rohstoffe und Waren von A nach B und von B nach A zu schicken, der nimmt das Phänomen nur begrenzt wahr. Für Appadurai ist Globalisierung ein zirkulierender Strom sozialer Formen. Daher lassen sich Handel und dessen soziale Folgen nicht sauber voneinander scheiden.
Der metaphysische Widerstand gegen Multikulti erinnert mich an jene Stimmen, die ich bei vielen Menschen zuweilen höre, die den Jahrgängen jenseits der Fünfzig angehören. Sie beklagen sich zuweilen, dass der Einzelhandel stirbt, die Innenstädte verwaisen, weil die Menschen gezielt den Internethandel nutzen. Nun kann man die Menschen dafür sensibilisieren und ihnen sagen »Kauft nicht beim Online-Händler!«, aber das widerspricht der allgemeinen Entwicklung. Mit frommen Belehrungen ändert man die Zeichen der Zeit nicht. Es ist ein antimodernistisches Hadern, ein metaphysisches Widerstreben gegen eine Veränderung der Lebensrealität, gegen das gute alte Gestern, an das man gewohnt war. Natürlich werden Innenstädte sich modifizieren. Tun sie ja heute schon. Den Konsum aber online vereinfacht und bequemer gestaltet zu haben, wird man mit moralischer Einstufung des Phänomens nicht einfach aus der Welt schaffen. Man kann faktisch über diese Entwicklung gar nicht mehr verhandeln, weil sie da ist und angenommen wurde und noch verfeinert wird und sich fort und fort entwickelt. Wer zurück will, der sehnt sich nach einer Welt, die es nicht mehr gibt, die es nur wieder geben kann, wenn das Netz irreparabel zusammenbricht.
All die Stimmen, die Multikulti für gescheitert erklären oder die Straßen füllen mit ihren Parolen gegen Ausländer, tönen im antimodernistischen Blues. Sie glauben aus unerfindlichen Gründen, dass sie mit ihrer isolationistischen Haltung die Dynamiken dieser modernen Welt aufhalten können. Wenn man Mauern und Zäune errichtet, so denken sie, dann kann die Welt und das Land so bleiben, wie es immer war. Man konserviert sich die Erinnerung an eine Wirklichkeit, wie sie vor Jahrzehnten mal war, aber nicht mehr sein kann in unseren Tagen. Es sind insofern wirklich ewiggestrige Stimmen, die sich gegen die multikulterelle Gesellschaft stellen. Wer metaphysisch revoltiert, fällt aus seiner Zeit, zieht eine Schnute und tut so, als würde das etwas nützen, als würde »der Weltgeist« diese infantile Haltung zur Kenntnis nehmen und einlenken, gleich darauf schuldig bekennen, dass alles so bleiben kann, wie es sich »sein unzufriedenes Publikum« wünscht. Plus die Vorzüge natürlich, die die vernetzte Welt für uns gezeitigt hat. Denn man will ja nur nicht multikulti sein, multikonsumistisch hingegen schon.
Es braucht einen gesunden Fatalismus in gewissen Entwicklungen unserer Epoche der Menschheitsgeschichte. Der »ethnisch reine Gesellschaftsentwurf«, einer weitestgehend homogenen Bevölkerung, ist schon seit Jahren dahin. Völkerwanderungen gab es ja ohnehin schon immer. Die globalisierte Welt schafft diese menschliche Konstante nicht etwa ab, sondern forciert sie. Sie erzeugt Einwanderungsländer und -gesellschaften. Die Mobilität zwischen Ethnien und Kulturen ist unabänderbar in einer solchen Weltordnung. Wer das nicht will, muss nationale Volkswirtschaften und Mangelökonomie in Kauf nehmen und darf nicht mit stolzer Brust von deutschen Waren in der Welt, von Exportweltmeisterschaft und Marktführerschaft schwelgen. Der sollte glücklich sein, ein provinzielles Landei zu sein, ohne Ansprüche auf exotische Früchte, Erdöl und Urlaub auf Bali.
Dass eine multikulterelle Gesellschaft immer einfach zu regieren ist, dass es sich ohne Probleme darin leben lässt, heißt das alles deshalb noch lange nicht. Man muss es regeln, muss Toleranz und Gelassenheit lernen und selbst jegliche leitkulturelle Attitüde ablegen. Aber ob wir das wollen oder nicht, es ist nun mal so. Hört auf zu jammern!