Der Garten Eden – Ernest Hemingway

Genau dort, im Paradies, befindet sich unser Held. Man lehne sich in seinem Sessel zurück, schließe die Augen und stelle sich folgendes Situation vor: Es ist Sommer im Südfrankreich der 20er Jahre. David, ein amerikanische Schriftsteller, verbringt einen nicht enden wollenden Urlaub an unterschiedlichen Orten am Mittelmeer und zwar zusammen mit seiner unglaublich schönen und sexuell aktiven jungen Frau Catherine. Gleich nach dem Aufwachen lieben sich die Beiden, dann wir gut gegessen, an einer einsamen Bucht nackt geschwommen und sonnengebadet, dann werden die ersten Drinks gemixt, anschließend folgt die Siesta, die meist ebenfalls mit sexueller Aktivität eingeläutet wird. Am Nachmittag fahren die Beiden mit ihren Bugatti ins noch nahezu jungfräuliche, natürliche Cannes (oder eine beliebige andere Mittelmeerstadt), trinken in einem niedlichen Cafe ein paar weitere Drinks um dann zurück zu ihrer romantischen Unterkunft zu fahren, wo wieder gemixt, gegessen und gevögelt wird, was das Zeug hält. Finanzielle Sorgen ist David seit seiner Hochzeit los, einerseits, weil er reich geheiratet hat, andererseits, weil sein eben veröffentlichter Roman sich richtig gut verkauft. Wenn es den beiden so gefällt, packen sie ihre Sachen und fahren weiter; bis nach Madrid führt sie ihr kleiner Sommerausflug. Wenn David Lust und Muse dazu verspürt, schreibt er ein paar Stunden, schließlich freut sich Catherine auf den Bericht dieses gemeinsam verbrachten paradiesischen Sommers. Es ist in der Tat der sprichwörtliche Garten Eden, in dem sich die beiden befinden und es juckt mich, der ich auch gern schreibe, es den beiden gleich zu tun und einen ganzen Sommer auf eben diese Weise zu verbringen wie sie.
Doch wissen wir aus der Erfahrung und der Literatur, dass in jedem Paradies die Schlange ihre Verführungskünste einsetzt und ihr Unwesen treibt, auch wenn sie oft mit einer cleveren Tarnung daher kommt, damit wir ihr so vertrauen wie der Schriftsteller seiner dunkel gebräunten und unverfroren hell gefärbten Frau. Die verbotene Frucht ist im Fall der beiden Frischvermählten denn auch kein schnöder Apfel sondern sieht viel appetitlicher aus: Ein wunderschönes Mädchen (noch dazu stinkreich) gesellt sich auf Bitten und Drängen der unersättlichen Catherine zu dem glücklichen Paar, damit dieses noch ein wenig glücklicher werde. Der Traum der meisten Männer scheint für David nun mit dieser ménage à trois in Erfüllung zu gehen, auch wenn dieser sich anfangs noch sehr schwer damit tut und (wie dumm muss man sein!) dagegen wehren will. Doch weiß Catherine all ihre Wünsche gegenüber ihrem Gatten durchzusetzen und so zieht „Die Erbin“ kurzerhand mit in das kleine, abgelegene Hotel, in dem keine weiteren störenden Gäste anwesend sind. Praktischerweise verfügt Davids Arbeitszimmer über eine Tür zu dem von Marita, und so lässt er sich erweichen und tut seiner Frau den Gefallen, aller zwei Tage die Betten zu wechseln. Schnell findet er Gefallen an der ihn abgöttisch liebenden jungen Frau, welche vorher bereits mit Catherine für eine Nacht das Bett geteilt hatte, womit diese sich einen langjährigen Traum erfüllen konnte. Kaum hat er das Mädchen ein wenig genauer kennen gelernt, erliegt er einem Gefühl, welches wir wohl alle kennen und an das wir uns sehnsüchtig seufzend gern selbst zurück erinnern. Als sie einmal kurz die Bar verließ, sah er ihr Glas und „…nahm es in die Hand, hob es an die Lippen, und als es seine Lippen berührte, merkte er, dass ihn das erregte, weil es ihr Glas war.“
Doch leider, leider: Auch in dieser von beiden Frauen genau so gewünschten Dreiecksbeziehung zeigen sich schnell die ersten Risse. Catherine stichelt und stänkert immer wieder, doch meist geht es ihr dabei gar nicht in erster Linie um „Das Mädchen“, wie Marita meist genannt wird. Der Leser versteht genau so wenig wie die 3 Beteiligten, was genau Catherine stört, war sie es doch, die dieses Abenteuer zu Dritt initiiert und eingefädelt hat. Als dann das erste Mal von einem eidgenössischen Arzt die Rede ist, zu dem David seine Frau begleiten möchte, ahnt man, dass diese von einer psychischen Krankheit betroffen sein könnte, die Siegmund Freud vielleicht als Hysterie bezeichnet hätte. Oder hieß das Nymphomanie? Wahrscheinlich war es Keines von Beidem oder Beides in Einem doch überlassen wir die genaue Diagnose den Psychiatern. Wir erfahren also auch bei dieser Frau nicht, was in ihr vorgeht, was sie antreibt, warum sie so handelt und ob sie überhaupt von einer Krankheit heimgesucht wurde. Immer wieder bereut sie ihre bösen Worte und mutiert wieder zu der verständnisvollen, liebenden und charmanten modernen Frau, die sie zweifelsohne ist.
Beneiden kann man David dennoch, nicht nur um seine erotischen Erlebnisse sondern auch um seine Einstellung zu dieser von der Gesellschaft abgelehnten und von den Meisten als unmöglich erachteten Konstellation, nämlich der gleichwertigen und gleichzeitigen Liebe zu zwei verschiedenen Menschen: „Er dachte ganz arglos an die Beiden, ohne irgendwelche Probleme mit Liebe oder Zuneigung oder Verpflichtungen zu wälzen oder über Geschehens oder Zukünftiges, über gegenwärtige oder zukünftige Schwierigkeiten nachzudenken, sondern er dachte einfach nur, wie sehr er sie vermisste.“
Auch hat mich fasziniert (und damit auf den Boden der Realität zurück geholt), dass nicht erst in unserer von sexueller Medienflut bestimmten Gesellschaft die Hauptantriebskraft für die meisten Handlungen der meisten Menschen direkt oder indirekt von sexuellen Wünschen und Begehrlichkeiten hervorgebracht wird. Nein, auch schon vor 100 Jahren und höchstwahrscheinlich schon seit wir in Höhlen um das Feuer herum hockten, war und ist die (körperliche) Liebe die stärkste, wenn auch nicht die einzige Antriebskraft für uns Menschen, auch wenn uns das vielleicht nicht immer so bewusst ist. Nur fühlen wir uns heutzutage viel offener und experimentierfreudiger als wir es unseren Vorfahren zugestehen – was mitnichten zutreffend ist, wie sich hier wieder einmal zeigt.
Unseren Schriftsteller scheint die freie und oft praktizierte Liebe im sommerlichen Südfrankreich zu neuen Glanzleistungen zu animieren. Er unterbricht seinen Bericht über dieses Sommerabenteuer und schafft es, mehrere Stories niederzuschreiben, die er schon lange mit sich herumträgt. Ein weiterer Beweis für die Schaffenskraft sexueller Energie. Und ein weiterer Beweis für Hemingways Genialität (der sich durch diesen posthum veröffentlichen Roman wohl in David ein Denkmal geschaffen hat). Es gelingt den beiden Männern, uns in kürzester Zeit von der warmen Steinterrasse des Sommerdomizils ins heiße Afrika und zurück zu beamen. Hier nämlich handelt die gewichtigste seiner Kurzgeschichten: Zusammen mit seinem Vater hatte der kleine David dort an einer detailliert nachzulesenden Elefantenjagd teilgenommen, welche inklusive Ausflüge in die kindliche Gefühlswelt äußerst spannend und unglaublich plastisch nacherzählt wird. Wie hierbei die Gedanken des jungen Elefantenjägers und des erwachsenen Schriftstellers fein ineinander gewoben wiedergegeben werden, zeugt von der wahren Kunst des Schreibens.
Dumm nur, dass Catherine in einem neuerlichen Anfall nicht nur die Rezensionen über Davids kürzlich veröffentlichtes Werk verbrennt (ein Frevel an sich, entwürdigt sie hierdurch doch die Zunft der Kritiker!). Nein, sie macht auch vor den gerade abgeschlossenen Stories nicht halt und lässt nur den begonnenen Reisebericht übrig. Diesen zu veröffentlichen ist nunmehr ihre vordringlichste Aufgabe und sie legt sich ordentlich ins Zeug, wofür wir ihr sehr dankbar sein können, halten wir ihn doch gerade jetzt in unseren Händen.
Nun tut sich der Kritiker natürlich ein wenig schwer, den berühmten Nobelpreisträger Hemingway auch wirklich zu kritisieren. Ansatzpunkte fände er schon einige: So fühlt sich der Roman zumindest in der ersten Hälfte teilweise ein wenig langatmig an und die meiner Meinung nach zu häufig benutzten französischen Vokabeln tragen Ihres dazu bei, diesen Eindruck zu verstärken. Zumindest für Menschen ohne frankophonen Hintergrund dürfte so manche Passage recht unverständlich bleiben. Doch sei’s drum: Auch wenn über weite Strecken nicht viel mehr zu lesen ist als ein Bericht über Schwimmen, Essen, Ficken und Saufen, so sollte man immer bedenken, dass es im erträumten Garten Eden nun einmal genau so zugeht. Wozu die Geschichte also unnötig aufblähen? Zumal einige Dialoge wahrhaftig großartig sind. Immer wieder ist es überaus beeindruckend, die Wortwechsel zwischen Catherine und David mitzuverfolgen. Dessen unglaubliche emotionale Beherrschung gegenüber seinem Teufel (wie er seine Frau zu Recht von Anfang an immer wieder nennt, ohne zu ahnen, wie treffend diese Bezeichnung wirklich ist) sollte uns allen als Beispiel für edle Konversation dienen. Selbst nach wüsten Beleidigungen und sogar unmittelbar nach der erschütternden Erkenntnis, dass all seine Stories unwiederbringlich verloren sind, begegnet David der Zerstörerin mit einer solchen Ruhe und Nonchalance, wie sie wohl keiner von uns in einer ähnlichen Situation aufbrächte.
Erneut hat mir übrigens ein Hemingway allerhand wertvolle Ratschläge zum Schreiben vermittelt. Während sich David beim Schreiben immer wieder in die Zeit der Jagd mit seinem übermächtigen Vater hineinversetzt, lässt er uns auch an seinen Gedanken hinsichtlich des Niederschreibens von Vergangenem teilhaben. Doch wer diese Tipps nun aufsaugen und für sich selbst verwendet möchte, sollte „Der Garten Eden“ lieber selbst zur Hand nehmen. Dieser Ratschlag gilt natürlich auch für alle, die es interessiert, ob und wie die Geschichte von David und seinen beiden hübschen Frauen nun ausgeht.

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