Heterotopia! Raumbühne! Alles brennt! Ohne Frage geht eine große Anziehungskraft von den Parolen der neuen Opernintendanz in Halle aus. Und auch ich war nach meiner Erfahrung beim dortigen 12-Stunden-Konzert Feuer und Flamme für das heiße Konzept, das Florian Lutz mit seinem Team zu präsentieren hat. Da durfte ich einen Besuch seiner Inszenierung von Richard Wagners Der fliegende Holländer natürlich nicht auslassen und fand mich also am vergangenen Wochenende zu diesem Spektakel in Sachsen-Anhalt ein.
Halle, the place to be
Was andere schon mehrfach und viel besser beschrieben haben, möchte ich nur verkürzt wiederholen. Wenn man einer der glücklichen Zuschauer ist, die noch einen der Plätze in der Raumbühne ergattert haben, darf man sich für die Ouvertüre die Augen verbinden lassen, sich kostümieren und den Darstellern ganz nah sein. Prinzipiell finde ich solche Konzepte großartig. So können die Darsteller direkt mit ihrem Publikum kommunizieren, so vermischen sich die Energien der Ausführenden und der Rezipienten, so wird Theater zu einem wirklichen Erlebnis. Dass man dabei auch noch lustige Choreographien mitmachen darf und sich nachher noch an Freibier und Würstchen gütlich tut, kann natürlich nicht schaden. Währenddessen wird gesungen und gespielt, der Zuschauer wird von allen Seiten beschallt, einerseits live, andererseits durch die teilweise Verstärkung, auf zwei großen Projektionsflächen flimmern Live-Bilder und Schnipsel aus Nachrichtensendungen, im Hintergrund und Vordergrund überall Menschen, die gebannt zuschauen, gespannt am Helm kratzen oder gerade von einem Darsteller oder Platzanweiser an den nächsten Ort des Geschehens verfrachtet wird. Wenn das kein Erlebnis ist!
So viel auf einmal... ist Wagner auch da?
Die Frage, die bleibt und die vielleicht noch nicht oft genug gestellt bzw. betont wurde, ist: Was hat das ganze eigentlich mit der Oper von Wagner zu tun? Ich lasse mir gerne von einem klugen und charmanten Regisseur hinterher erklären, dass der Holländer einen heutigen Neureichen à la Mark Zuckerberg darstellen soll, dass es auch etwas mit Kapitalismuskritik und Kritik an des digitalen Zeitalters zu tun hat und dass die Überforderung des Zuschauers beabsichtigt und erwünscht ist. Aber auch mit diesem Hintergrundwissen hat sich mir die Sinnhaftigkeit dieses Vorhabens nicht erklärt. Für mich war der einzige Moment, der die Partizipation des Publikums rechtfertigt, der Kampf zwischen den Angehörigen, der gezeigten Gesellschaft (die Seeleute) und den Asylanten (die Mannschaft des Holländers), welche bis zu diesem Zeitpunkt hinter einem Bauzaun ausharren mussten. Nachdem letztere mit Brot beworfen wurden, eskaliert die Szene, sodass der Zuschauer sich plötzlich anderen Zuschauern als Gegner gegenüber sieht. Das kann ein starker Moment der Erkennntnis sein - es war jedenfalls der stärkste Moment der Vorstellung.
Ein JA zum Erlebnis! Aber zum Theater auch
Ganz abgesehen von der fragwürdigen inhaltlichen Verbindung von Regiekonzept und Stück ist diese Aufstellung auch optisch höchst problematisch. Im Hintergrund (und manchmal auch Vordergrund) sind logischerweise immer andere Zuschauer zu sehen, die nicht nur eine völlig heterogene Fläche bilden, sondern auch ganz unterschiedliche Energien mitbringen. So entsteht nicht nur für das Ohr, sondern auch für das Auge eine Unruhe, die den Fokus von dem abzieht, was eigentlich gerade im Zentrum des Interesses stehen sollte. Denn bei aller avantgardistischen Herangehensweise ans Theater, die - ich betone es nochmal - auf jeden Fall zu begrüßen und zu unterstützen ist, gibt es doch auch noch ein Werk, das als Grundlage dient. Wenn dieses Werk aber so weit in den Hintergrund rückt, dass dessen Geschichte weder erzählt, noch deutlich genug kommentiert oder verfremdet wird, und dann auch nicht genug Konzentrationsfähigkeit übrig bleibt, um seine musikalischen Vorgänge wahrzunehmen, dann wird das Werk doch beliebig austauschbar. Und das ist einfach schade.
Der fliegende Holländer. Romantische Oper in drei Aufzügen von Richard Wagner (UA 1843 Dresden)Oper Halle
Musikalische Leitung: Josep Caballé-Domenech
Regie: Florian Lutz
Raumbühne: Sebastian Hannak
Kostüme: Mechthild Feuerstein
Video: Konrad Kästner
Dramaturgie: Veit Güssow
Besuchte Vorstellung: 30. Oktober 2016