Der Feind des Besseren ist der heutige Erfolg

Eigentlich soll ja alles immer besser werden, oder? Die Prozessoren der nächsten Jahre sollen auf die eine oder andere Weise besser sein als die heutigen – so wie die heutigen besser sind als die der 1990er und die wiederum besser als die der 1980er usw. Auch unsere Autos sollen immer besser werden – so wie sie seit mehr 125 Jahren immer besser geworden sind. Das selbe gilt für Fernseher, Mixer und Solarzellen.

Aber nicht nur solch handfeste Dinge sollen besser werden. Auch bei Dienstleistungen mögen wir es, wenn die sich zum Besseren verändern. Wer möchte heute noch einen Gesundheitscheck wie vor 20 oder gar 100 Jahren? Wo wären wir, wenn die Flugabfertigung immer noch wie vor 60 Jahren abliefe? Selbst beim Friseur schätzen wir den Fortschritt.

Dito bei der Arbeitsweise unserer Unternehmen, oder? Und genauso bei der Software. Auch die soll besser werden, vom Betriebssystem bis zum Smartphone Game. Selbstverständlich nehmen wir die Software, die wir selbst entwickeln, da nicht aus.

Ja, das ist eine Welt, wie sie sein soll: alles wird immer besser und besser.

Was ist “besser”?

“Besser” ist dabei ein relativer Begriff in zweierlei Hinsicht. Zum einen steckt in “besser” ein Vergleich zum Bisherigen. Zum anderen gilt “besser” genauso wie das vorgelagerte “gut” nur in einem Kontext, d.h. in Bezug auf eine Umwelt – und darin in Bezug auf einen Wertmaßstab. Es geht mithin um einen Unterschied, der einen Unterschied macht.

Ein Fernseher mit Fernbedienung ist nicht einfach besser als einer ohne Fernbedienung. Aber die Fernbedienung ist schon mal ein Unterschied zwischen beiden.

Doch wenn dieser Unterschied #1 dazu führt, dass Käufer eine andere Entscheidung treffen (Unterschied #2), d.h. die Fernbedienung sie motiviert, den Fernseher mit Fernbedienung zu kaufen statt den ohne Fernbedienung… dann beurteilen wir den Fernseher mit Fernbedienung als besser im Vergleich zu dem ohne.

Der Wertmaßstab ist in diesem Fall zum Beispiel der Umsatz, der mit Fernsehern gemacht wird. Der Fernseher mit Fernbedienung ist besser in Bezug auf den Umsatz – aber vielleicht schlechter in Bezug auf den Kalorienverbrauch der Fernsehzuschauer (Wertmaßstab Gesundheit) oder den Anfall von Elektronikschrott (Wertmaßstab Nachhaltigkeit).

Wenn wir nun in die Welt schauen, dann – so glaube ich – stimmen wir überein, dass vieles über die Zeit tatsächlich besser und besser geworden ist. Der Spruch “Früher war alles besser.” stimmt also nicht pauschal, auch wenn uns der heutige Stand mancher Entwicklung frustriert [1].

Bedingungen für die Möglichkeit zur Verbesserung

Verbesserungen in allen Bereichen unseres Lebens scheinen so natürlich – aber wie kommt es eigentlich dazu? Wie funktioniert diese Evolution unserer Hilfsmittel und Dienstleistungen?

Mir scheint es zwei zentrale Bedingungen dafür zu geben:

  1. Es müssen überhaupt Ideen für Veränderungen produziert werden. Was könnte der Unterschied #1 zum Ist-Zustand sein? Dafür braucht es ein Milieu, das motiviert, solche Ideen zu produzieren. Sensibilität für Unzufriedenheit, Kreativität, Mut sind nötig.
  2. Die Ideen für Veränderungen müssen implementiert werden können, um zu sehen, ob es zu einem positiven Unterschied #2 in Bezug auf einen für Produzenten wie Konsumenten relevanten Wertmaßstab kommt.

Die Natur als Beispiel

Die Natur macht uns das sehr schön seit Milliarden von Jahren vor. Sie erfüllt beide Bedingungen: die erste durch genetische wie epigenetische Veränderungen, die zweite durch Reproduktion.

Krankheit und Tod zeigen auf, wo Lebewesen noch nicht zufriedenstellend an die Umwelt angepasst sind. Mutationen sind äußerst kreative Veränderungen – oft jenseits unseres Vorstellungsvermögens; wir hätten es nicht besser machen können. Und Mut hat die Natur genügend, da sie durch keine Glaubenssätze beschränkt ist.

So werden Lebewesen von Generation zu Generation besser und besser bzw. erhalten sich die Güte ihrer Überlebensfähigkeit.

Der Markt als Beispiel

Auch der Markt macht uns vor, wie die Bedingungen erfüllt werden können. Konkurrierende Anbieter generieren kontinuierlich Ideen für Veränderungen, die sie über neue Modelle an den Markt bringen.

Vor allem im Bereich des Materiellen funktioniert der Markt damit wie die Natur. Besser wird es durch Generationen von Modellen. Ein Fernseher hat eine Lebensdauer, ebenso ein Flugzeug und ein Röntgengerät. Spätestens nach dieser Lebensdauer kann es durch etwas Besseres ersetzt werden.

Tod als Herz der Evolution

Natur und Markt gleichen sich. In ihnen schlägt das selbe Herz der Evolution: der Tod. Das in der Vergangenheit Gute macht durch seinen Tod ganz automatisch Platz für das inzwischen besser gewordene.

Das Ganze - die Summe aller Lebewesen, d.h. das Ökosystem, bzw. die Summe aller Modelle, d.h. der Markt – erhält seine eigene übergeordnete Lebensfähigkeit also dadurch, dass seine Teile in einem ständigen Prozess von Werden und Sterben stehen.

Allemal gilt das für seine kleinsten Teile, aber durchaus für Subsysteme größerer Granularität. Die Lebensdauer bzw. die Dauer des Verbleibs im System wächst dabei tendenziell mit der Größe eines Subsystems.

Perverse Unsterblichkeit

Lebewesen sterben. Das gehört zu ihrer Definition. Misslich ist es für uns Menschen, dass wir von unserer Sterblichkeit wissen. Sie macht uns nur allzu oft Angst. Da helfen alle Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge und Reparaturmedizin auch nicht. Nach rund 100 Jahren machen wir Platz für die Nachgeborenen.

Materielle Produkte haben auch nur eine überschaubare “Lebenserwartung”. Selbst bei bester Pflege fordern Physik (z.B. durch Reibung oder thermische Kräfte) oder Chemie (z.B. durch Oxidation) früher oder später ihren Tribut. Und wo das dem Hersteller zu lange dauert, da setzt er auf planned obsolescence.

Aber wie ist es bei Unternehmen? Wie ist es bei Software?

Bei immateriellen Hilfsmitteln [2] herrscht ein anderes Ideal: sie sollen unbegrenzt lange existieren. Niemand gründet ein Unternehmen mit einer Idee von dessen Lebenserwartung [3]. Und niemand schreibt Software mit einem Verfallsdatum [4].

Ist das nicht pervers, d.h. anormal, verkehrt, unnatürlich – für etwas, das ständig besser werden soll?

Markt und Natur, also die umfassenden Systeme, sollen nicht besser werden, sondern beherbergen das, was immer besser werden soll, um sich als Ganzes zu erhalten [5]. Die umfassenden Systeme kennen keinen auf gleicher Ebene existierenden Konsumenten. Es sind autopoietische Systeme, sie erhalten sich selbst. Wenn sie dienen, dann eher nach innen, ihren Konstituenten gegenüber.

Für mich sieht es so aus, als würden wir Unternehmen sowie Software heute in einem Widerspruch herstellen bzw. betreiben:

Wir strukturieren sie einerseits wie materielle Produktmodelle, d.h. vergleichsweise starr. Das haben wir ja auch über Jahrhunderte gelernt. Sie erfüllen zu einem Zeitpunkt einen Zweck, sind temporär also gut. Eine Verbesserung können wir erst mit einem neuen Modell erwarten.

Andererseits denken wir sie unsterblich, d.h. als übermaterielles System, das es durch ständige Veränderung im Inneren zu erhalten gilt.

Ja, was denn nun? Innen starres Hilfsmittel, das über Generationen evolviert – oder innen flexibles System mit unbegrenzter Lebenserwartung?

Da passt doch irgendetwas nicht, oder?

Hinderlicher Erfolg des Immateriellen

Die Quelle für diesen Widerspruch sehe ich in einer scheinbaren Wahl, die wir haben. Immaterielles wie ein Unternehmen oder Software unterliegt keinem natürlichen Verfall – also können wir die Lebenserwartung selbst bestimmen. Und da bestimmen wir mal, dass die unendlich sein soll. Geht doch. Und ist bestimmt unterm Strich billiger, als immer wieder etwas Neues von Grund auf herzustellen, oder?

Dass sowohl Unternehmen wie Software dann doch nicht ewig existieren, ist eine andere Sache. Shit happens. Potenziell könnten sie es jedoch. Darum gilt es, das anzustreben.

Der Erfolg zu einem bestimmten Zeitpunkt scheint in die Zukunft verlängerbar. Ein Auto funktioniert ja auch mit guter Wartung nicht nur heute, sondern auch noch in Jahrzehnten.

In Wirklichkeit steckt hier jedoch das Missverständnis. Erfolgreich heute – also in Bezug auf heutige Umwelt und Wertmaßstäbe gute Systeme – bedeutet nicht, erfolgreich morgen.

Umwelt und Wertmaßstäbe für Unternehmen und Software sind solchem Wandel unterworfen, dass in ihnen ständig umgebaut werden muss. Ein treffendes Bild scheint mir das einer stehenden Welle: die äußere Form bleibt trotz allem Fluss im Inneren erhalten.

Solange Erfolg mit einem Ist-Zustand an Strukturelementen und Beziehungen gleichgesetzt wird, funktioniert das aber nicht. Erfolg muss davon abgekoppelt werden. Welche Konstituenten ein System ausmachen, ist für die langfristige Existenz des Systems als Ganzem unwichtig. Es gibt nichts per se Erhaltenswertes. Es gibt immer nur einen Systemaufbau, der angesichts einer Umwelt und eines Wertmaßstabs gut genug ist – und sich leicht an Veränderungen anpassen lässt.

Anpassungsfähigkeit ist die einzige erhaltenswerte Eigenschaft. Alles andere steht ständig zur Disposition. Es gibt kein einfach so extrapolierbares Erfolgsrezept im Konkreten, sondern um im Abstrakten.

Praktische Konsequenz

Vielleicht sind unsterbliche Unternehmen und Softwareprodukte wünschenswert. Derzeit sehe ich jedoch nur Versuche zu solcher Unsterblichkeit unter zunehmenden Schmerzen. Wir wissen einfach nicht so richtig, wie wir Unsterbliches aufbauen müssen. Oder wenn wir es wissen, dann setzen wir dieses Wissen nicht systematisch um.

Was also tun? Wir müssen raus aus dem Widerspruch.

Die Blaue Pille nehmen würde bedeuten, bei den aktuellen Konstruktionsweisen zu bleiben. Dann sollten wir aber zumindest die Lebenserwartung von Unternehmen und Software von vornherein begrenzen. “Wir gründen unseren online Shop mit einer Lebenserwartung von 8-12 Jahren.”, “Wir legen die Software auf eine Nutzungsdauer von 3-5 Jahren aus.” – und danach ist Schluss. Ende. Tot. Unternehmen und Software werden dann ersetzt.

Da diese Endlichkeit allen von Anfang an klar ist, kann vorgesorgt werden. Ableger können rechtzeitig gezeugt werden, die neue Erkenntnisse umsetzen – wozu das schon länger Existierende nicht wirklich fähig ist. Die Ausgründung, die Neuentwicklung sind dann keine Überraschungen, sondern ganz natürlich.

Erfolg heute wäre dann kein Ballast mehr für das Bessere. Erfolg wäre nicht narzistisch, sondern bescheiden.

Die Rote Pille nehmen würde hingegen bedeuten, die aktuelle Konstruktionsweise umzukrempeln. Das scheint mir schwieriger – aber nicht unmöglich. Wir müssten lernen, Unternehmen und Software intern eher so zu strukturieren wie ein Ökosystem. Das würde bedeuten, ihre Konstituenten würden evolvieren wie der Automarkt oder die Arten auf einer einsamen Insel.

Hier würde Erfolg per definitionem nicht dem Besserem im Wege stehen. Anpassung wäre in die Systeme eingebaut.

Blaue Pille oder Rote Pille – oder ein Pillencocktail? Ich weiß nicht. Nur sollte es nicht so weitergehen wie bisher. “Aber wir haben doch die letzten 5 Jahren tolle Umsätze gemacht, wir hatten Erfolg… Warum sollten wir jetzt etwas verändern?” darf kein Argument mehr sein, mit dem Veränderungen geblockt werden.

Wir müssen die Bedingungen für die Evolution herstellen: Ideen müssen nicht nur her, sondern auch in bunter Vielfalt implementierbar sein. Evolution ist verschwenderisch. Ressourcenverbrauch auf momentane Bedürfnisse hin zu optimieren, steht längerfristigem Überleben im Wege.

Der wahre Feind der Verbesserung lauert also ständig schon im eigenen System: es ist der heutige Erfolg. Diese Situation müssen wir systematisch bekämpfen.

Fußnoten

[1] Warum wird der Spruch dennoch immer wieder geäußert. Je älter Menschen werden, desto eher scheinen sie ihn auszusprechen. Ich denke, das liegt daran, dass es mit dem Alter erstens überhaupt möglich wird, einen Vergleich zwischen früher und heute anzustellen. Und zweitens hat der Spruch weniger mit den Eigenschaften eines Gegenstandes oder einer Dienstleistung zu tun, als vielmehr mit dem Wertmaßstab.

Es kann sein, dass der vergleichsweise unverändert ist; er hat sich nicht auf die Co-Evolution von Angeboten und Umwelt eingelassen.

Oder es kann sein, dass er sich einfach nur in eine andere Richtung entwickelt hat. Mit zunehmendem Alter verschieben sich Bedürfnisse eben.

[2] Unternehmen subsummiere ich hier mal unter dem Begriff Hilfsmittel. Gegenüber seinen Kunden, ist ein Unternehmen natürlich kein Hilfsmittel, sondern produziert welche. Aber Eigentümer und Angestellte sehen Unternehmen natürlich als Hilfsmittel zur Existenzsicherung.

[3] Ausnahmen gibt es natürlich: Filmproduktionsfirmen haben u.U. eine bewusst auf die Herstellungsphase begrenzte Lebensdauer. Auch Fonds können so organisiert sein, dass ihre Firma nur für die Laufzeit existiert. Oder “Blasenfirmen”, die nur solange irgendwie lebensfähig und vor allem vielversprechend sein müssen, bis sie jemand kauft.

[4] Von Software, die durch absehbare Gesetzesänderungen nur begrenzt relavant ist, sehe ich einmal ab. Meist betreffen solche Termine der Umwelt ja auch nur Teile einer Software.

[5] Erhaltung kann natürlich auch als eine Form der Verbesserung angesehen werden – aber auf einer höheren Ebene. Wenn die Natur heute aber anders aussieht als vor 100 Millionen Jahren, für wen macht das einen Unterschied #2?


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