Der Fall „Sakineh Ashtiani“ – Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß

Der Fall „Sakineh Ashtiani“ – Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weißFAZ.net:  Die in Iran zum Tode verurteilte Lehrerin Sakineh Ashtiani lebt in einem Land, in dem Frauen unterdrückt werden. Man muss sie verteidigen, nicht nur, weil sie wahrscheinlich unschuldig ist. Ihr Fall ist ein Test unserer Entschlossenheit.

Von Bernard-Henri Lévy

10. November 2010

Ich weiß so wenig über Sakineh Ashtiani. Ich weiß dass sie in Osku zur Welt kam, einem Städtchen in der Provinz Täbris, im Nordwesten Irans, wo Frauen den Hidschab tragen. Ihre Familie war arm und fromm.

Sie hat, auch das weiß ich, als Grundschullehrerin gearbeitet. Es war eine Art Dorfschule, in der die Schüler zwischen zwei und sieben Jahre alt sind und die Lehrerin verschiedene Rollen einnimmt: Erzieherin, Kindergärtnerin, Köchin und den Größeren Lesen, Rechnen, Zeichnen und Religion beibringt. Doch diese Information passt nicht zu dem Bild, das alle, auch ich, von ihr hatten. Denn eigentlich hieß es doch, sie sei Analphabetin?

Das stimmt – aber nur, was die persische Sprache betrifft. Sakineh ist Azeri. Iranische Staatsbürgerin, aber aus jener Provinz, in der die aserbaidschanische Kultur sehr stark ist und wo man kaum Farsi spricht. Das erklärt, warum sie nicht verstand, was sie tat, als sie im Jahr 2008 im Gericht von Tabriz das Dokument unterschrieb, in dem sie zum Tod durch Steinigung verurteilt wurde. In ihrer Sprache war sie gebildet – was zu dem Foto passt, das mir iranische Freunde nun zugespielt haben: Man sieht sie inmitten ihrer Schüler, die jeweils ihre schönste Zeichnung in die Kamera halten. Sie selbst steht im Hintergrund, ganz im schwarzen Hidschab verhüllt. Man sieht nur ihr Gesicht, von dem eine schöne und subtile Ernsthaftigkeit ausgeht.

Auf der Fahrt zurück hat sie gesungen

Dieses Urteil ist noch aus einem anderen Grund problematisch. Als die Mullahs, die mit drei gegen zwei Stimmen eine Verurteilung wegen Ehebruchs ausgesprochen haben, die Strafe verkündeten, sprachen sie nicht Farsi, sondern arabisch: „Rajm“ lautet der arabische Ausdruck für diese barbarische Strafe. Das hat Sakineh nicht verstanden. Nur so erklärt sich, weshalb sie ihr Urteil unterzeichnete und dann, überzeugt, freigesprochen worden zu sein, erleichtert zu dem Wagen zurückkehrte. Auf der Fahrt zurück hat sie gesungen.

Sie hat es erst in der Zelle Nummer 4 erfahren, der Zelle der Todeskandidatinnen. Shanaz Ghomani, die einzige politische Gefangene dort, hat die Szene beschrieben. Erst hat sich keine ihrer Zellengenossinnen getraut, ihr die Wahrheit zu sagen. Das hat dann, zur Essensausgabe, eine sadistisch veranlagte Wärterin übernommen, in triumphierendem Ton. Bevor sie sich vorstellen konnte, wie sie bis zum Hals eingegraben wird, damit eine Horde Männer mit ausgesucht kleinen Steinen ihr Gesicht zerschmettern können, ist Sakineh in Ohnmacht gefallen.

Ich weiß, dass ihre Mutter sie besuchen kam, alle zwei oder drei Wochen, bis man Sakineh an einen geheimen Ort brachte und isolierte.

Der Sohn musste zusehen

Ich weiß, dass sie einen Sohn hat, Sajjad, ihr Augenstern, ihr Glück, der ihre Verteidigung organisierte bis – in einem selbst für dieses Regime außerordentlichen Akt der Brutalität – er mit seinem Anwalt und zwei deutschen Journalisten abgeholt und verschleppt wurde. Bis heute fehlt von ihm jede Spur.

Ich weiß, dass sie eine Tochter hat, Saeideh, von der ich nur ein Foto kenne. Sie ist heute siebzehn Jahre alt. Ihr Bruder hat für sie gesorgt. Seit seiner Verhaftung ist sie auf sich allein gestellt und mittellos.

Ich weiß, dass ihr die Erziehung ihrer Kinder sehr wichtig war. Wie sie sich gefreut hat, als Sajjad ihr bei einem Besuch mitteilen konnte, dass die Busgesellschaft in Tabriz seine Bewerbung angenommen hat und er dort als Schaffner anfangen kann.

Ich weiß, dass sie eine besorgte, liebende Mutter ist und, wie alle Mütter der Welt, darauf bedacht ist, ihren Kindern das Schlimmste zu ersparen. Als sie vor vier Jahren zum ersten Mal in den Heizungskeller des Gefängnisses gezerrt wurde, um 99 Peitschenhiebe zu empfangen, da waren es weniger die körperlichen Schmerzen, unter denen sie litt – obwohl die so heftig waren, dass sie sich übergeben musste. Es war der Umstand, dass ihr Sohn dabei zusehen musste, auch das ein Teil des Urteils.

Schlimmer noch. Als sie sich, voller Beruhigungsmittel, die ihr ihr Sohn noch ins Gefängnis zukommen lassen konnte, damit abgefunden hat, durch Steinigung zu sterben, als sie, wie es Kinder tun, ihre Tränen mit den Fäusten abgewischt hatte, da hatte sie an ihre Henker nur noch eine Bitte: Man solle ihren Kindern ersparen, diesen Horror und diese Demütigung mit anzusehen.

Die andere Anschuldigung

Sakineh ist fromm. Als sie in der Zelle in Ohnmacht fiel, ist ihr Tschador verrutscht, und es war ihr peinlich. Die Ungerechtigkeit ihres Schicksals lähmt sie. Sie begehrt aber nicht dagegen auf, sie fügt sich in den göttlichen Entschluss.

Ich weiß, dass sie schön ist, sehr schön, auch wenn auf dem bekanntesten Foto jede Spur von Koketterie fehlt. Denn es stellt sich ja die Frage nach diesem Ehebruch, dem Verbrechen, dessentwegen sie verurteilt wurde.

Es gibt natürlich noch die andere Anschuldigung: Der Mord an ihrem Ehemann, Ebrahim Ghaderzadeh, der 2005 ums Leben kam. Die örtliche Polizei wollte sie dafür belangen und hat behauptet, Sakineh habe ihm ein Beruhigungsmittel verabreicht, bevor Issa Thaeri, der Cousin Ebrahims, ihn im Badezimmer mit einem tödlichen Stromstoß ermorden konnte. Aber nach iranischem Recht wird Mord nicht mit Steinigung geahndet. Und die Justiz selbst hat den Fall schon 2006 geklärt. Issa Taheri hat gestanden und alle Schuld auf sich genommen. Und er befindet sich, das nur am Rande, heute in Freiheit.

Aber der Ehebruch?

Ist es denn möglich, dass Sakineh dem Charme des Cousins oder – die Anklage, mehrfach umgeschrieben, ist in diesem Punkte unverständlich – dem der Brüder Ali und Nasser Nojoumi erlegen ist, die wiederum mit dem Mord nichts zu tun haben?

Die Kluft zwischen Verbrechen und Strafe

Als sich ihre Ehe, wie es viele Zeugen aussagen, verschlechterte und ihr Mann ihr verbot, weiter als Lehrerin zu arbeiten, wäre es denn denkbar, dass sie ihr Herz zu einem anderen ziehen ließ? Hier weiß ich nur wenig. Ich weiß nur, dass ich sehr aufpassen muss, was ich schreibe. Denn wenn in Europa Ehebruch, insbesondere im Falle einer unterdrückten und wie eine Sklavin gehaltenen Ehefrau, ein anderer Name der Liebe sein kann, so ist das in Iran eines der schlimmsten Verbrechen. Ich habe ihren Anwalt Houtan Kian danach gefragt, kurz bevor er mit Sajjad festgenommen wurde. Ihm schien es schwer vorstellbar, dass jemand in einem Städtchen wie Osku, wo sich alle gegenseitig belauern, fremdgeht. Ich habe auch ihren ehemaligen Anwalt Mohammed Mostafaei gefragt, nachdem er nach Oslo geflohen war. Er bestätigte mir, dass es in der Ehe Sakinehs nicht mehr sehr gut lief und dass sie vielleicht an eine Scheidung gedacht hat, die aber nach iranischem Recht nur in extremen Ausnahmen gestattet ist. Also wird sie unglücklich, vielleicht sogar verbittert gewesen sein. Aber er kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie anders reagiert haben könnte als durch Spaziergänge. Vielleicht hat sie mit Taheri oder den Brüdern Nojoumi Blicke gewechselt, die einem kleinstädtischen Denunzianten auffielen.

Ich habe mich dann auch getraut, ihren Sohn Sajjad danach zu fragen. Wir sprachen über ein Kartenhandy, also relativ geschützt. Sajjad liebte seinen ermordeten Vater ebenso wie seine Mutter. Mehrere Freunde von mir waren am Apparat. Wir haben aber nichts von einem dunklen Geheimnis gespürt: kein Familiendrama, keine Solidarität unter Männern, auch nicht das Gespenst einer untreuen Mutter, der man verzeihen müsste, weil die Kluft zwischen Verbrechen und Strafe so immens ist. Mein Gefühl nach all diesen Gesprächen war, dass sich Sakineh vielleicht verliebt hat. Aber nichts unternommen hat.

Ich bin davon überzeugt, dass ihr ein absolutes Unrecht geschieht, dass man sie nicht dafür verurteilt, was sie getan hat, sondern was sie ist: eine Frau in einem Land, in dem Frauen schlechter behandelt werden als Tiere. Daher muss man sie verteidigen: weil sie, wie man die Sache auch dreht, unschuldig ist, aber auch, weil sie ein Symbol ist für all jene Frauen, die im Schatten leben und die stumm bleiben müssen.

Ein Jonas unserer Zeit

Es ist immer eine komische Geschichte, wenn jemand plötzlich zum Symbol für die Rechte aller Frauen und aller Männer wird, jemand, der, um einen großen Philosophen zu paraphrasieren, so viel wert ist wie jeder andere, wie alle anderen. Es ist sehr seltsam, so ein Leben zu sehen, ein normales, kleines Leben, das nicht weniger schuldig und nicht unschuldiger ist als viele andere, das plötzlich vom Schicksal beleuchtet und im Nachhinein bedeutsam wird. So ist das mit Sakineh.

Sie ist eine Heldin wider Willen geworden. Aber woher kommt das weltweite Engagement für diese einfache Frau? Warum hat der französische Staatspräsident – wie er mir nochmal telefonisch versicherte – aus dem Schicksal dieser Frau einen Test gemacht, von dem er nicht mehr abgehen wird?

Das fragen sich natürlich die Iraner. Das macht sie wütend. Sie verstehen nicht (oder nur zu gut), dass dieser Fall ein Test unserer Entschlossenheit ist, dem Regime standzuhalten – so, wie wir es umgekehrt als einen Test ihrer Fähigkeit sehen, zuzuhören und umzuschwenken.

So ist das. Mahmud Ahmadineschad wird daran nichts ändern. Sakineh auch nicht, die von der iranischen Dunkelheit verschluckt wurde wie ein Jonas unserer Zeit. Das Mysterium dieser Ungerechtigkeit zieht uns in seinen Bann. Bis sie freigelassen wird.

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