Der expressionistischste Film

VON MORGENS BIS MITTERNACHTS
Deutschland 1920
Mit Ernst Deutsch, Erna Morena, Hans Heinrich von Twardowski, Roma Bahn u.a.
Regie: Karlheinz Martin
Dauer: 73 min

Der expressionistischste Film

Als der deutsche expressionistische Stummfilm schlechthin galt bislang Robert Wienes Kabinett des Dr.Caligari (1919), allenfalls auch noch der nur fragmentarisch erhaltene Genuine (1920) desselben Regisseurs. In keinem anderen Film wurden die Ideen und Theorien des Expressionismus derart konsequent umgesetzt – dachte man. Spezialisten wussten zwar von der Existenz eines anderen, vergleichbaren Films, doch der galt als verschollen. Und zur Zeit seiner Fertigstellung konnten ihn in Deutschland nur ganz wenige Leute sehen. Von morgens bis mitternachts gelangte dort nämlich nie in den Filmverleih. Er wurde einige wenige Male aufgeführt, erst vor der Presse, die ihn zerrupfte, dann vor Testpublikum, das sich eher abgestossen zeigte.
Darauf wollte kein Verleih das sperrige Werk in die Kinos bringen.

In Japan hingegen fand sich ein Verleiher; dort wurde Karlheinz Martins erstes Filmwerk akzeptiert und offenbar verstanden. Und dort hat Von morgens bis mitternachts unter Filmspezialisten offenbar noch heute einen gewissen Status, während man in Deutschland bis vor kurzem lediglich von dessen Existenz wusste.

In unglaublich aufwendiger filmarchäologischer Kleinarbeit wurde der Film, der nur noch in der japanischen Fassung ohne Zwischentitel erhalten war, restauriert. Zunächst musste eruiert werden, ob der Film in seiner deutschen Fassung ebenfalls keine Zwischentitel enthielt. Die Quellen waren da widersprüchlich, Gespräche mit Zeitzeugen brachten eine eindeutige Antwort: Er hatte welche.
Natürlich wusste aber niemand, wie diese lauteten und wo sie ins Geschehen eingewoben waren. Nach langer, zunächst erfolgloser Suche in Ost- und Westdeutschland tauchte 1987 die Zensurkarte zum Film auf  – und darauf waren sämtliche Zwischentitel – es sind über hundert – samt ihrer Positionierung im Film verzeichnet.

Trotzdem dauerte es noch bis 2009, bis der Film fertig restauriert erstmal einem interessierten deutschsprachigen Publikum vorgeführt werden konnte. Das Gerücht bestätigte sich: Von morgens bis mitternachts geht in der Umsetzung des Expressionismus im Film noch weiter als Caligari. Inzwischen gilt er, und nicht mehr Caligari, als der expressionistische Film.

Der aufmerksame Leser merkt, dass ich der Besprechung des Films ausweiche.
Ich finde es äusserst schwierig, ihn zu beurteilen, ohne ihm Unrecht zu tun. Der aufmerksame Leser ahnt nun auch, dass mir der Film nicht besonders gefallen hat. Doch darum geht’s hier nicht, oder nur am Rande. Jemand, der mit dem Expressionismus vertraut ist, sieht diesen Film mit gänzlich anderen Augen als ein Anfänger wie ich. Da Von morgens bis mitternachts eine komplett andere, viel weniger spektakuläre, ja sogar eine vergleichsweise simple Dramaturgie aufweist als der Caligari kann er mit herkömmlichen filmischen Bewertungskriterien schlecht erfasst werden, ja er entzieht sich solchen, möglicherweise sogar vorsätzlich.

Ihn einfach als abgefilmtes Theater abzutun, wäre aber auch falsch, denn obwohl es sich um die Verfilmung des gleichnamigen expressionistischen Theaterstücks von Georg Kaiser durch den Theaterrregisseur Karlheinz Martin handelt, der das Stück zuvor auf der Bühne inszeniert hatte, ist der Film durchaus etwas ganz und gar Eigenständiges, das sich kaum in eine Schublade quetschen lässt – ausser in die namens expressionistischer Film.
Folgt man der Theorie des Expressionismus, dann müsste man Von morgens bis mitternachts gar als den einzigen expressionistischen Film bezeichnen, und die anderen deutschen Stummfilme von Caligari bis Metropolis als „Stummfilme mit mal mehr, mal weniger expressionistischen Elementen“. Zumindest bei Caligari wird dieses Ettikett strittig bleiben, (Genuine blende ich aufgrund seiner unvollständigen Überlieferung hier aus), eine endgültige Festlegung dürfte aber schwierig bis unmöglich sein. Denn obwohl die Welt in Caligari aufs skurrilste verfremdet und reduziert erscheint, weist sie doch den Bezug zur Dreidimensionalität auf, was bei Von morgens bis mitternachts nicht der Fall ist. Das Filmbild ist flach, auf die Zweidimensionalität reduziert. Martin versuchte, die Zweidimensionalität des Kinobildes zu unterstreichen, durch flache Bauten, die keine Perspektive aufweisen. Ebenso unterstrichen ist das Fehlen von Farbe, das damals ebenfalls ein Attribut von Kinofilmen war: Der Schwarzweisskontrast ist grell, Zwischentöne wurden weitgehend eliminiert.
Die Zweidimensionalität und der Kontrast wurden noch weiter verdeutlicht, indem man den Schauspielern schwarze oder weisse Ornamente ins Gesicht und auf die Kleider malte, so dass sie wie die Kulissen ins Konzept passten.

Somit ist Von morgens bis mitternachts der wohl konsequenteste expressionistische Film – und, wie bereits gesagt, streng genommen der einzige – weil er das Konzept des Expressionismus auf den Film anwendet wie kein anderer vor- und nachher. Er entsagt jeder filmischen Daramturgie-Konvention, gleichzeitig thematisiert er das typisch Filmische, indem er es herausstreicht. Die Entsagung jeglicher Spannungsdramaturgie hat eine gewisse Sperrigkeit zur Folge. Einfach so lässt sich der Film nicht konsumieren. Und das ist möglicherweise der Hauptgrund, weshalb er damals abgelehnt wurde.

Heute sieht man ihn mit anderen Augen, begegnet ihm offener. Ich war bei seiner Visionierung hin- und hergerissen zwischen Faszination und Langeweile. Die einzelnen Sequenzen sind oft zerdehnt, die Gesten der handelnden Personen derart überzeichnet, dass sie beinahe nichts menschliches mehr haben. Verfremdung auf allen Ebenen, heisst das Motto dieses Films. Das macht ihn schwer zugänglich.
Vergessen werde ich ihn wohl nicht so leicht. Die holzschnittartige Schwarzweissmalerei kreiert Bilder, die sich sich ins Gedächtnis eingraben.

Erzählt wird ebenso holzschnittartig – die Geschichte des Bankkassierers, der eines Tages das Geld einsackt und abhaut, aus seiner Anstellung, aus seinem Familienleben, aus seinen Gewohnheiten. Er geht in die Stadt und sucht dort das Leben, findet aber immer nur und immer wieder sich selbst – und daran geht er zugrunde.

Somit wäre ich bei der Wertung angelangt, die sich bei diesem Film als äusserst schwierig und als äusserst heikel erweist, da er im Grunde ein eigenes Genre bildet, in welchem er der einzige Vertreter ist. Es stellt sich also das Bezugsproblem und die Frage: Ist Von morgens bis mitternachts ein wichtiger Film? Ein Wegbereiter?
Er hat heute wohl vor allem als Dokument Gültigkeit und Bedeutung, als Dokument zum Verständnis des Expressionismus. Einen Wegbereiter würde ich ihn nicht nennen wollen, aber um mir da ein abschliessendes Urteil bilden zu können, bin ich zuwenig bewandert. Ich lasse mich also gern eines Besseren belehren.
Als Film ist er schwer bewertbar, weil er sich der cinéastischer Mittel eher parodierend bedient. So verzichte ich dieses eine Mal auf eine „Benotung“ und nehme Zuflucht zur Floskel:
Keine Wertung

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Die DVD-Ausgabe: Der Film wurde hervorragend restauriert, die Bildqualtät ist sehr gut!

Die Musikbegleitung: Es gibt zwei Begleitungen zur Auswahl, die eine stammt vom SchlagEnsemble H/F/M und passt sehr gut zu diesem Werk. Die zweite von Yati Durant fand ich dank mir meist nicht einleuchtender Dissonanzen-Dominanz gewöhnungsbedürftig.

Regionalcode 2

Extras: Zwei Musikbegleitungen zur Auswahl, ein Booklet mit mehreren, sehr unterschiedlichen Essays zum Film – sie reichen von informativ-interessant über pastorenhaft salbungsvoll bis unerträglich gestelzt (jene von Fritz Göttler). Zudem gibt ein kurzer Filmbeitrag über die Begleitung des Schlagensembles Auskunft.

Verfügbarkeit:
Deutschsprachiger Raum: Der Film wurde vor kurzem von der edition filmmuseum herausgebracht. Zu bestellen ist sie direkt beim Verlag oder bei amazon.

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