Ist das Tanz, ist das Theater, ist es eine Performance? „Ich mache kein Theater und ich bin kein Choreograf“ erklärt Lemi Ponifasio in all seinen Interviews und Publikumsgesprächen. Und fügt hinzu, dass er vielmehr Zeremonien auf die Bühne bringen möchte. Zeremonien kommen immer dann zum Zug, wenn sich Gesellschaften neu aufstellen. Wenn jemand geboren oder erwachsen wird, wenn jemand stirbt. Alte Kulturen, die später als Europa industrialisiert wurden, sind noch näher an ihren überlieferten Traditionen und den damit verbundenen Zeremonien als es die westliche Welt ist. Sie versuchen heute, zumindest vereinzelt, ihre Riten und Gebräuche neu zu entdecken oder weiter aufrecht zu halten.
Lemi Ponifasio, geboren in Samoa, aber in Auckland zur Schule gegangen und seit Jahrzehnten dort beheimatet, weiß um die Kraft von Zeremonien. Aber er weiß auch um die Kraft und Wirkung von Bildern auf der Bühne. Insofern sind seine Aussagen, er mache weder Theater noch Tanz, zu relativieren. Das, was das Publikum am 20. Mai als Welturaufführung im Festspielhaus St. Pölten zu sehen bekam, war in der Tat eine Mischung aus all den bereits angesprochenen Kategorien – zusammengefasst: eine bühnentaugliche Zeremonie. „Standing in Time“ ist der Titel dieser Inszenierung, die ausschließlich von Frauen auf der Bühne bestritten wird.
Ponifasios Arbeiten sind auf den ersten Blick erkennbar
Ponifasios Arbeiten tragen eine eigene, unverwechselbare ästhetische Handschrift. Wie mit dem Auge und Sensorium eines Bildhauers ausgestattet, arbeitet er mit Hell-Dunkel-Kontrasten, nicht nur, um in den dunkelst beschatteten Bühnenabschnitten Auf—und Abgänge magisch erscheinen zu lassen. Sein spezieller Lichteinsatz lässt vor allem den nackten Körper einer seiner Protagonistinnen wie aus Stein gemeißelt aussehen. Voller Plastizität und doch nicht von dieser Welt. Ein weiteres Charakteristikum ist sein Umgang mit Zeit. Aus der Zeit gefallen, aus der Zeit ausgehebelt oder zeitlos könnte man das Geschehen nennen, das sich in langsamen Bewegungen der Darstellerinnen präsentiert. Ihr verlangsamtes Schritt-Tempo konzentriert die Aussagen ihrer Gesten wie unter einem Brennglas. Wenn sie zum Beispiel Steine von einem Haufen aufnehmen und diese in Reih und Glied auflegen, sodass die Bühne damit in zwei Teile geteilt wird, so tun sie das so ruhig und bedächtig, dass dem Publikum dabei viel Zeit zum Nachdenken bleibt. Gerade noch konnte man fühlen, dass diese Steine etwas Kostbares symbolisierten – Kinder vielleicht. Abgelegt in Reih und Glied markieren diese eine strikte Grenze. Beide Gedankengänge schließen sich nicht aus, wie man später erkennen wird. Aber dieses Erkennen braucht Zeit.
Für manche Menschen aus dem Publikum ist diese Zeit-Verlangsamung eine spürbare Herausforderung. Andere können damit leichter umgehen. Erstaunlich dabei ist, welch komplexe Geschichte sich trotz dieser Verlangsamung in einer Vorstellung von 1 Stunde und 30 Minuten erzählen lässt. Es sind, obwohl das Ensemble nur indigende Mitglieder hat, universelle Begebenheiten, die nicht schwer nachempfunden werden können, wenn man die langsamen, fließend aneinandergereihten Szenen mit offenen Sinnen aufnimmt. Es geht um Unrecht, das Frauen von Männern erfahren, das Unrecht, das eine aus ihrer Gesellschaft ausschließt und zum Tode verurteilt, weil sie als einzige den Mut hatte, das Leid, das nicht nur ihr, sondern auch den anderen zugefügt wurde, öffentlich anzuprangern. Vielleicht hat sie auch ein tatsächliches Unrecht begangen – der Interpretationsspielraum ist groß für jene Szene, in der über die Köpfe gehaltene Steine der Frauengruppe zum Verhängnis werden. In ihren Bewegungen ist Gewalt zu spüren, eine Gewalt, die schließlich von allen – bis auf einer – abgeschüttelt wird.
Die erste Göttin und der Engel
Zwei Gestalten auf der Bühne heben sich von der Gruppe der schlanken, schwarz gekleideten Maori-Frauen ab. Eine von ihnen ist ganz in Weiß gekleidet und verkörpert eine Gestalt, die Ponifasio selbst in seinen Gedanken über Jahre hin begleitet und fasziniert. Es ist der „Angelus novus“ oder „angel of history“, wie er ihn nennt. Jene Gestalt von Paul Klee, die zwischen den Zeiten wandelt und alle Schrecklichkeiten der Vergangenheit gesehen hat, zugleich bei Ponifasio aber auch ein Hoffnungsträger sein darf. Schon in „Tempest – without a body“ trat diese mythische Figur in Erscheinung. Er begleitet das Opfer, sanft und still am Bühnenrand stehend, während seiner Verurteilung, seines Todes und auch darüber hinaus. Er führt aber auch einen Haka auf, einen martialischen Tanz, wie man ihn aus der Maori-Überlieferung von Männern getanzt kennt. Mit weit aufgerissenen Augen, eine dünne Alustange in der Hand, begleitet sich dieser Schreckensengel in dieser Szene mit lauter, eindringlicher Stimme. Wut, Abwehr und Drohungen sind dabei zu fühlen. Stimmungen, die als Schutz gegenüber den Frauen wahrgenommen werden, zugleich aber auch eine unheilvolle Bedrohung ankünden.
Die zweite, außergewöhnliche Figur bezeichnet Ponifasio als „Urmutter“, als erste Göttin, die sich laut polynesischer Überlieferung in die Unterwelt zurückgezogen hat und sich dort um die Toten kümmert. Von Beginn an steht sie auf der Bühne. Elisa Avendano Curaqueo, eine Mapuche-Vertreterin eines indigenen Volksstammes aus Südamerika, verkörpert diese Gestalt und addiert mit ihren klagenden, indianischen Gesängen eine gehörige Portion Wehmut und Trauer.
Wer fühlt, versteht
Sie singt in ihrer eigenen Sprache, wie auch die Maori Frauen. Sprachen, die das Publikum in St. Pölten nicht verstehen. „Es ist egal, ob man das, was gesungen wird, versteht oder nicht“ – O-Ton Lemi Ponifasio, „vielmehr kommt es darauf an, sich auf die Situation ganz einzulassen, sie zu spüren und zu wissen, dass es ein besonderer Augenblick im Hier und Jetzt ist“.
Von Anfang bis zum Schluss ist die Inszenierung zugleich durchgehend von einem dumpfen, stets gleichbleibenden Sound eingehüllt. Um es mit einem musikhistorischen Terminus auszudrücken – von einer Art Generalbass, der alles, was auf der Bühne geschieht, auditiv unterfüttert. Ab und zu mischen sich feine, kaum hörbare, rhythmische Geräusche darunter. An einer Stelle schwellen zuerst kaum hörbare Stimmen zu einer gewaltigen, männlich dominierten Klangmasse an. Genau in jenem Augenblick, in dem klar wird, dass eine der jungen Frauen eines Vergehens angeklagt ist, das von einer männlich dominierten Gesellschaft mit dem Tod sanktioniert wird. In einem kurzen Augenblick agiert sie selbst als Justizia, hält dabei ihren linken Arm vor die Augen und lässt den ausgestreckten, rechten, an dem eine weiße Kugel baumelt, langsam sinken. Dabei zieht sie langsam an ihrem Kleid und steht schließlich nackt und ungeschützt auf einem schwarzen, querliegenden Quader, den Blicken des Publikums ausgesetzt und umbrandet von dem wütenden Gebrüll einer aufgebrachten Männermasse.
Ihr Tod – dargestellt durch das Aufschütten von Asche neben ihren Füßen, noch während sie bewegungslos auf dem monolithischen Block verharrt – und der anschließende Ritus ihres Begräbnisses geht unter die Haut. Stünde am linken Bühnenrand nicht die helle Engelsgestalt, wäre der Raum nur von Schrecken und Trauer erfüllt. „We have to bury our dead properly“ – dieser maorischen Forderung wird an dem Körper der toten Frau nachgekommen und so wird man Zeuge, wie er sanft gewaschen und umgebettet wird. Ein wunderbarer, abschließender Chor, das erste vielstimmige Musikstück, wird von den Frauen intoniert und verleiht ihnen nun erstmals, im Gegensatz zu den davor unisono gesungenen Litanein, jeder eine individuelle Stimme.
Der Engel schiebt den Katafalk schließlich bis ganz vor an den Bühnenrand. Die junge Tote ist vom Hals abwärts bis zu den Zehen mit einem weißen Tuch bedeckt. Bei diesem erschreckenden Anblick erfährt man eine letzte und ultimative conditio humana, der ausschließlich Religionen noch einen Trost hinzufügen kann. In atemberaubender, genialer Weise wird dem Publikum dieser Trost doch noch zuteil.
Völlig unerwartet, leise und schockierend zugleich – nachdem der Engel das schneeweiße Leinentuch langsam über den Körper nach oben gezogen hat, der Frau das Gesicht verdeckte und zugleich ihre Beine damit freilegte. Plötzlich beginnen sich die Füße zu bewegen und die Beine langsam aufzustellen. Die Liegende öffnet im Zeitlupentempo ihre Schenkel und gibt den Blick auf ihre dunkle Scham frei. „The origin of the world“ nannte Gustave Courbet 1866 ein Bild, das genau diesen Anblick wiedergibt und das über Jahrzehnte nicht ausgestellt wurde und erst spät in die Kunstgeschichte Eingang fand. Der Ursprung der Welt – hier liegt er begründet, im Schoß der Frauen, die das Menschengeschlecht gebären. Ohne Unterlass, eine Generation nach der anderen.
Die Hoffnung im Tod
In der Maori-Vorstellung sind Leben und Tod nicht voneinander getrennt, gibt es kein Diesseits und Jenseits, werden die Verstorbenen in der Unterwelt weiter betreut. Die Interpretation dieses, letzten, eindringlichsten Bildes aller Bilder, bleibt dem Publikum selbst überlassen. Ob das Weiterleben nach dem Tod oder der ewige Lebenskreislauf damit gezeigt wurde, bleibt offen. Wie auch immer die Beurteilung dafür ausfallen mag: Leiser aber zugleich auch emotionaler und verstörender wurde die Geschichte vom Leben und Tod, von Unrecht und Recht und dem ewigen Kreislauf von Geborenwerden und Sterben auf den Bühnen unserer Welt kaum dargestellt. „Standing in Time“ ist eine Zeremonie auf Theaterbrettern, deren Kraft sich auf das Publikum überträgt, wenn es diese Energiewanderung zulässt. Eine Kraft, die sich aus einem zutiefst menschlichen Weltbild speist, das zwar mit Recht und Gerechtigkeit zu kämpfen hat, seine Toten jedoch ehrt und ihnen gebührend Respekt zollt. Ein aufwühlendes, hoch emotionales Stück mit vorauszusehender Langzeitwirkung.