Neues Deutschland, 01.10.2014
Wirtschaftlichen Triebkräfte beflügeln separatistische Bewegungen in Europa
Trotz der Niederlage der schottischen Unabhängigkeitsbefürworter bei der Abstimmung ebbt die europäische Separatismuswelle keinesfalls ab. Derzeit scheint vor allem in Spanien der Konflikt zu eskalieren. Der Ankündigung eines Unabhängigkeitsreferendums durch die Regionalregierung in Barcelona, das am 9. November in Katalonien angehalten werden soll, begegnete die Zentralregierung in Madrid mit einer strikten Blockadehaltung. Sie ließ das Referendum per Verfassungsgericht jetzt stoppen. Zuvor hat Kataloniens Regionalpräsident Artur Mas die reibungslose Abhaltung des Referendums als »die Pflicht eines jeden Demokraten« bezeichnet.
Solche Argumente verdecken eher die knallharten wirtschaftlichen Triebkräfte, die Europas Separatisten beflügeln. Nahezu alle derzeit im Aufschwung befindlichen separatistischen Bewegungen Europas werden – aller identitären und demokratischen Rhetorik zum Trotz – maßgeblich durch ökonomische Prozesse und Faktoren befeuert. Bemerkenswert an dieser neuen europaweiten Welle des Separatismus ist vor allem der Umstand, dass sie zumeist durch wohlhabende und sozioökonomisch avancierte Regionen getragen wird: durch Katalonien in Spanien, Südtirol und Norditalien (»Pandanien«) in Italien oder Flandern in Belgien. All diesen Fällen ist die krisenbedingte Tendenz gemein, sich durch eine Abspaltung von den ärmeren und im Gefolge der Eurokrise besonders hart getroffenen Landesteilen abzukoppeln.
Die Katalanen wollen nicht mehr für die »Hungerleider« in Andalusien aufkommen, in Norditalien rümpft man die Nase über den verarmten und mafiaverseuchten Süden, während die Wallonie als postindustrielle Brachlandschaft Belgiens gilt, von der sich die flämischen Separatisten lösen wollen. Insofern bildete Schottland, wo Befürchtungen vor den sozioökonomischen Folgen einer Abspaltung von Großbritannien den Wahlkampf prägten, tatsächlich eine Ausnahme von dieser Regel – dies schlug sich dann auch im Wahlergebnis nieder.
Somit muss der spätkapitalistische Krisenprozess – die Eurokrise im Spezifischen wie die Systemkrise im Allgemeinen – als eine treibende Kraft dieser europäischen Separatismuswelle angesehen werden. Der Krisenverlauf in der Eurozone brachte eine abermalige Vertiefung der sozioökonomischen Ungleichgewichte und Abgründe innerhalb der europäischen Krisenländer mit sich, die Absetzbewegungen innerhalb der (relativ) wohlhabenden Regionen befeuerte. Zudem zeitigt die Krise der Arbeitsgesellschaft auch einen geografischen Kontraktionsprozess, bei dem Deindustrialisierung und Konzentration der Produktionskapazitäten Hand in Hand gehen. Hochproduktiven regionalen – und oftmals transnationalen – »Clustern« der Warenproduktion (Süddeutschland und Alpenraum) stehen ganze Landstriche ökonomisch verbrannter Erde (Ruhrgebiet, weite Teile Ostdeutschlands) gegenüber, in denen kaum noch Warenproduktion im nennenswerten Umfang stattfindet.
Zusätzlichen Auftrieb erhält der Spaltpilz durch die Globalisierung und den europäischen Freihandel, da hierdurch die Bedeutung der einheimischen Absatzmärkte für die Wirtschaft der ökonomisch avancierten Regionen abnimmt. Sollten etwa Katalonien oder Flandern nach dem eventuellen Erreichen der Unabhängigkeit weiterhin in der EU als souveräne Staaten verbleiben, dann würden ihnen keinerlei Nachteile in Form von Zöllen oder Handelsembargos daraus erwachsen. Brüssel treibt somit tatsächlich die Ausbildung eines buchstäblichen Europas der Regionen voran. Entscheidend aber ist: Die Globalisierung hat dazu geführt, dass avancierte Wirtschaftsunternehmen in globale Produktionsketten eingebunden sind und immer stärker für den Weltmarkt produzieren. So verlieren die historisch gewachsenen nationalstaatlichen Wirtschaftsverflechtungen beständig an Gewicht: Die Auflösung der nationalen Volkswirtschaften geht der Auflösung der Nationen voran.
Ähnliche separatistische Tendenzen dürften übrigens auch in Deutschland, wo die sozioökonomische Kluft zwischen den Bundesländern ebenfalls zunimmt, spätestens mit dem nächsten Krisenschub manifest werden. Süddeutsche »Weltmarktführer« orientieren sich an der Marktlage in China oder den USA – und nicht an der Situation in Bremen, Mecklenburg-Vorpommern oder dem Ruhrgebiet. »Auch Bayern wäre stark genug, wieder ein eigenständiger Staat zu werden«, witzelte die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« kürzlich. Wenn sich das mal nicht als akkurate Prognose erweisen sollte.