Vielleicht ist diese Auszeit vom Normalzustand genau das, was ich gebraucht habe. Die Situation ist furchtbar. Sie stürzt so viele Menschen ins Unglück, verändert so viele Leben. Deswegen fühle ich mich schlecht dabei, wenn ich sage, dass sie für mich etwas sehr positives gebracht hat: Selbsterkenntnis.
Wo soll ich anfangen? Heute ist der Tag auf den ich zwei Jahre lang gewartet habe. Der letzte Arbeitstag in einem Job, den ich seit zwei Jahren hinter mir lassen möchte. Mir ist voll bewusst, dass es nicht gerade smart ist, sich über seine Arbeit im Internet zu verbreiten. Ich möchte nicht mit dem Finger zeigen, irgendjemanden schlecht machen oder mich darüber auslassen, was genau nicht in Ordnung war. Es soll hier gar nicht darum gehen, dass mir Unrecht getan wurde. Nee. Ich möchte hier meine eigenen Fehler festhalten, damit meine Erkenntnisse anderen Menschen nützen können. Ihr seid nicht alleine!
In den letzten zwei Jahren habe ich ziemlich oft bei Google eingegeben "Mein Job macht mich unglücklich, was tun"(ja, das habe ich wirklich gegoogelt). Das Ergebnis war immer dasselbe: Nicht jammern. Weitermachen. Was besseres suchen. Es ist nur ein Job. Ich fand das null hilfreich und fühlte mich von der Welt im Allgemeinen und dem Internet im Besonderen furchtbar allein gelassen. Gab es da draussen niemanden, der mich verstand? Meine Bewerbungen endeten allesamt in Absagen. Meine immer halbherzigeren Versuche, Anschluss in der Firma zu finden oder mich an interessanteren Projekten zu beteiligen, verliefen fruchtlos. Selbst die kleinsten Erfolgserlebnisse blieben aus und alles, was ich anpackte, schien schief zu gehen. Und schliesslich resignierte ich.
Zwei Jahre lang war ich wütend auf mich selbst, weil ich die falsche Entscheidung getroffen hatte. Ich musste erst vier Wochen lang mit meinen eigenen Gedanken eingesperrt sein, um zu erkennen, dass mein wahrer Fehler in der Resignation bestand. Im Verlauf des letzten Monats habe ich mein Leben Stück für Stück vor mir ausgebreitet und begutachtet. Und dabei habe ich festgestellt, dass es nicht allein der Job war, der mich unglücklich gemacht hat. Ich habe tatkräftig mit angepackt. Ich habe äusseren Umständen erlaubt, das schlechteste in mir hervor zu bringen.
Völlerei.Essen wurde zum Highlight meines Tages. Obwohl ich zuhause bereits gefrühstückt hatte, zögerte ich meine Ankunft im Büro hinaus, indem ich mir im Café gegenüber noch ein Pain au Chocolat gönnte. Danach begann ich, zu überlegen, wo ich am besten zu Mittag essen könnte. Und wenn das erledigt war, machte ich mich an die Planung des Abendessens, das jeden Tag ausgedehnte Einkäufe und aufwändige Rezepte voraussetzte. Und manchmal schlich ich Nachmittags noch schnell in den Supermarkt gegenüber und holte mir etwas Süsses. Ich ass, als gäbe es kein Morgen. Als könnten Pasta, Pizza, Eis, Curries und Braten irgendwie die Leere stopfen, die sich in mir breit machte. Und weil das nicht klappte, kippte ich noch ein bisschen Wein obendrauf. Ich hatte kein ausgewachsenes Alkoholproblem. Aber mein Feierabendweinchen wurde doch zu einem recht festen Ritual, dessen Ausbleiben mich richtiggehend nervös machen konnte.
Habgier.Weil Speis und Trank keine Erfüllung brachten, legte ich noch ein paar Klamotten obendrauf. Zalando und der Postbote wurden zu meinen besten Freunden. Immer fand ich noch etwas, das ich gebrauchen konnte oder genauso noch nicht hatte. Pyjamas, Pullover, Kleider, Hemden, Chinos, Jeans, Sneaker. Nichts war vor mir sicher. Freude an meinen Einkäufen hatte ich schon lange nicht mehr. Ich fühlte mich einfach leer, wenn ich wusste, dass in näherer Zukunft kein Päckchen zu erwarten war. Dass das auch finanzielle Konsequenzen hatte, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Irgendwann war ich abhängig von meinem ungeliebten Job, weil ich ja die ganzen Rechnungen für die vielen Klamotten bezahlen musste.
Faulheit.Im Angesicht meiner langsam aus der Form geratenden Figur und meinem nicht enden wollenden Stapel an Rechnungen...resignierte ich noch mehr. Ich sah, was falsch lief. Sah meine Fehler. Aber sie waren so überwältigend, dass ich nicht wusste, wo ich mit dem Krisenmanagement anfangen sollte. Also machte ich nichts. Ich hatte keine Energie. Bei der Arbeit machte ich nur noch das nötigste. Danach setzte ich mich zuhause mit einem Glas Wein und einem Teller Pasta auf die Couch und starrte den Fernseher an. Goals, liebe Leute, Goals. So will man sein - nicht....
Neid.Und wie das so ist, wenn es einem nicht gut geht: Alle anderen schienen es besser zu haben als ich. Ich entwickelte ein ungesundes Verhältnis zu Social Media und konnte Stunden damit verbringen, mich durch Blogs und Instagram Kanäle zu scrollen. Die perfekten Bilder und grinsenden Gesichter machten mich wütend. "Die haben ja gut Lachen", dachte ich erbost. "Wenn ich zuhause arbeiten und ständig schöne Sachen umsonst bekommen würde, wäre ich auch super drauf." Wenn ich dies, das und jenes hätte.... Und über diese garstigen Gedanken wurde ich noch unzufriedener.
Und dann passierten mehrere Dinge auf einmal. Ich ergatterte eine neue Stelle in einer Agentur, in der ich mich auf Anhieb wohl fühlte und kündigte meinen alten Job. Und eine Pandemie legte das Land lahm. Ich verbrachte meine letzten Arbeitswochen zuhause mit viel freier Zeit, weit entfernt von dem Klima, in dem ich mich so unwohl gefühlt hatte. Am Anfang versuchte ich, mit blindem Aktionismus die widersprüchlichen Emotionen in mir zu ersticken. Gestern war ich wortwörtlich durch die Strassen von Zürich getanzt vor Freude über die neue Wendung in meinem Leben. Heute packte mich die allgegenwärtige Angst vor der ungewissen Zukunft der nächsten Wochen und Monate.
Nach ein paar Tagen erlaubte ich mir selbst, zur Ruhe zu kommen. Durchzuatmen und die Schäden der letzten zwei Jahre vorsichtig zu begutachten. Und sie langsam aber sicher zu reparieren. Ich sortierte den Grossteil meiner Kleidung und Kosmetik aus. Ich kaufte ein Freeletics Abo und fing endlich an, Sport zu machen. Und weil ich schon dabei war, stellte ich auch gleich meine Ernährung um. Kleinere Portionen, viel Obst, Gemüse, Fisch und mageres Fleisch. Weniger Kohlenhydrate, Süsskram und Alkohol. Langsam fühle ich mich wieder wohler mit meinem Körper und beginne wieder, an mich selbst zu glauben. Ich lerne, dass ich stark sein und Sachen durchziehen kann.
Es fühlt sich ein bisschen an, als würde ich nach einer schlechten Party langsam wieder nüchtern werden und mich daran erinnern, was ich letzte Nacht für einen Blödsinn gemacht habe. Ich bin nicht stolz auf die Person, die ich in den letzten zwei Jahren geworden bin. Aber vielleicht gehört auch das zum Leben dazu: Verantwortung für den eigenen Murks übernehmen, sich aufrappeln und den Staub von der Hose klopfen und von vorne anfangen. Würde ich die letzten zwei Jahre ungeschehen machen, wenn ich könnte? Ich weiss es nicht. Wer weiss, wie mein Leben ohne diese Erfahrung aussehen würde. Ich habe getan, was ich getan habe. Und jetzt werde ich meinen Kurs korrigieren und stärker aus dem Sturm hinaus segeln.