Es war einmal ein kleiner Engel im Himmel, der die Menschen mit solcher Nähe und Zärtlichkeit begleitete, dass er den unwiderstehlichen Wunsch empfand, nicht nur mit den Flügeln über die Erde zu schweben und schützend die Menschen zu achten, sondern er wollte selbst auf ihren Straßen und Wegen gehen, einer von ihnen werden.
Eines Tages sah er auf der Erde eine eben erblühende Mohnblume.
Da schien es dem kleinen Engel, als habe er im Himmel noch nie ein solches Rot empfunden, und seine Sehnsucht, zur Erde zu gehören, wuchs. So trat er vor Gottes Angesicht und bat: "
Lass mich auf die Erde, lass mich ein Mensch unter Menschen werden."
Da trat ein erhabener, weiser Engel dazu und sagte: "Weißt du auch, dass es auf Erde nicht nur Sonne und Blumen gibt? Es gibt Stürme und Unwetter und allerlei Ungemütliches."
"Ja", erwiderte der kleine Engel, "das weiß ich. Doch sah ich auch einen Menschen, der hatte die Kraft, einen großen Schirm aufzuspannen, sodass zwei Menschen darunter Platz hatten. Es schien mir, den beiden könnte kein Unwetter etwas anhaben."
Da lächelte Gott dem kleinen Engel zu.
Die Zeit verging, und eines Tages erschien der kleine Engel wieder vor Gottes Angesicht und sprach: "Ich habe mir noch mehr angesehen von der Welt. Es zieht mich mehr und mehr hinunter." Da trat der erhabene, weise Engel wieder hinzu und entgegnete: "Weißt du auch, dass es Nebel und Frost und eine Menge verschiedener Arten von Glatteis gibt auf der Welt?"
Da antwortete der kleine Engel: "Ja, ich weiß um manche Gefahren, doch sah ich auch Menschen, die teilten ihre warmen Mäntel. Und andere Menschen, die gingen bei Glatteis Arm in Arm."
Da lächelte Gott dem kleinen Engel erneut zu.
Als wieder einige Zeit vergangen war, trat der kleine Engel zum drittenmal vor Gottes Angesicht und bat: "Lass mich ein Mensch werden. So rot blüht der Mohn auf der Erde. Mein Herz ist voll Sehnsucht, etwas zu diesem Blühen beizutragen."
Da trat der erhabene, weise Engel ganz nah zu dem kleinen Engel und fragte mit ernster Stimme: "Hast du wirklich genug hinabgesehen, das Leid und das Elend geschaut, die Tränen und Ängste, die Krankheiten, Sünden und den Tod geschaut?"
Mit fester Stimme erwiderte der kleine Engel: "Wohl habe ich auch das Düstere, Traurige und Schreckliche gesehen. Doch ich sah auch einen Menschen, der trocknete einem anderen die Tränen, der vergab einem Schuldigen und der reichte einem Sterbenden die Hand. Ich sah eine Mutter, die wiegte ihr krankes, ausgemergeltes Kind durch viele Nächte und wurde nicht müde, die alte leise Melodie der Hoffnung zu summen. Solch ein Mensch möchte ich werden."
Da trat der erhabene weise Engel zurück und Gott schenkte dem kleinen Engel seinen Segen und gab ihm viel Himmelslicht mit auf die lange Reise.
Bevor der kleine Engel zur Erde stieg, nahm ihm der erhabene, weise Engel einen Flügel ab, und der andere Flügel wurde unsichtbar. Da fragte der kleine Engel: "Mein Gott, wie soll ich vorwärtskommen und wie zurückfinden ohne Flügel?"
"Das herauszufinden wird deine Lebensaufgabe sein", hörte er Gottes Stimme zärtlich sagen.
In dieser Nacht kam ein kleines Kind zur Welt. Seine Mutter, noch vor Schmerz und Anstrengung betäubt, nahm das Kind in die Arme, sah das Himmelslicht wie einen Lockenkranz um das Köpfchen des Kindes leuchten und flüsterte:
"Sei willkommen unter uns, mein kleiner Engel."
Noch lange sah man das Himmelslicht um das Kind. Doch wie das Leben so ist, es beschmutzt auch die reinsten, hellsten Lichter. All die vielen Einflüsse, die Härte und der Kampf taten ein Übriges - bald sah niemand mehr, dass der Mensch himmlisches Licht in sich trug. Zwar machte sich der unsichtbare Flügel hie und da bemerkbar. Doch was bei dem Kind als träumerischer, schwebender Schritt wahrgenommen wurde, das wirkte bei dem Heranwachsenden eher als unsicheres Schwanken und beim Erwachsenen dann nur noch als Hinken und Stolpern.
Je länger der Mensch, der einst ein Engel gewesen war, auf den staubigen und steinigen Wegen des Lebens ging, die mühsamen Treppen bestieg, die steil abfallenden, dornigen Hänge hinunterstrauchelte, desto mehr hatte er vergessen, woher er kam und weshalb er hier wanderte. Einzig die große Liebe zu den kleinen roten Mohnblumen, die an Wegrändern und Magerwiesen blühten, war ihm geblieben.
Viel Leidvolles begegnete dem Menschen auf seinem Lebensweg. Zwar konnte er machmal eine Träne trocknen, zwar reichte er ab und zu einem schwankenden Mitmenschen die Hand, zwar brach er zuweilen sein Brot mit einem Hungernden, doch die meisten Rätsel blieben, und er merkte mehr und mehr, wie wenig er tun konnte und wieviel er unerledigt zurücklassen mußte. Seine Kraft reichte nur für ganz wenig, und oft schien es ihm, als bewirkte sein Leben nichts.
Jeden Frühling aber blühte neuer Mohn an den Straßenrändern und erfreute des Menschen Herz. Nach einem besonders langen, kalten Winter, in dem der Mensch kaum genug Wärme und Schutz, Raum und Nahrung, Freundschaft und Brot gefunden hatte, konnte er sich nur noch langsam und mühsam fortbewegen. Er musste viele Pausen machen und schlief oft vor Erschöpfung am Wegrand ein.
Da erblickte er weit über sich auf einem unerreichbar hohen Felsen eine kleine Wiese voll roten Mohns. Der Mensch rieb sich die Augen. So rot, so rot erblühte der Mohn. Beim Anblick dieser Blumen wünschte er so sehr, dass er allen Menschen, denen er begegnete, und allen Tieren, die um ihn waren, eine solche Blume und ein klares, inniges Rot als Zeichen der Liebe schenken dürfte.
Da bemerkte er neben sich einen Wanderer, genauso müde, genauso gezeichnet von der langen Straße wie er. "Wohin schaust Du so voller Sehnsucht und voller Wehmut?" fragte dieser. "Dort auf die Mohnblüten. So müsste die Farbe unserer Liebe sein."
"Weißt du denn nicht, wie schnell diese Art Blumen welken, wie verwundbar sie sind?" kam die Frage des Wanderers. Der Mensch, der einst ein Engel gewesen war, flüsterte: "Ich weiß um ihre Sterblichkeit. Trotzdem ist kein roteres Rot in der Welt und in meinem Herzen. Diese Blumen sind wie die Liebe, mag das Äußere auch verwelken, ihr Rot bleibt in der Seele."
Da schaute sich die beiden Menschen ins Gesicht und erkannten den letzten Funken Himmelslicht in den Augen des anderen. Sie sahen, woher sie kamen, wozu sie gewandert waren und wohin sie noch unterwegs waren. Und sie sahen an sich jeweils einen Flügel.
Voller Freude umarmten sie sich. Da geschah das Wunder. Sie erreichten das Mohnfeld, gemeinsam konnten sie fliegen, denn...
Menschen sind Engel mit nur einem Flügel - wenn sie ihr Ziel erreichen wollen und fliegen, müssen sie einander umarmen.
Zu dieser Stunde sagte Gott im Himmel: "Du hast herausgefunden, wozu du unterwegs warst und ich dich aussandte. Dein Mohn blüht jetzt im Himmel, komm heim!".
Unbekannter Autor
Das Foto wurde von Karin Heringshausen zur Verfügung gestellt