Der “einzige Belgier” nimmt seinen Hut

Es gibt so Tage, an denen geschieht vieles auf einmal. Heute ist so ein Tag. Da ist der neuerliche Militärputsch in Ägypten, die Gerichtsentscheidung zum Erhalt des Gezi-Parks in Istanbul, und nicht zuletzt der Rücktritt des belgischen Königs Albert II. Wieder ein königlicher Rücktritt? Ja, aber diesmal geht einer, der eine Nation zusammenhielt.

 

Leo Lauwers, der alte Phönix, hat auf seinem Blog einen Beitrag zum heute bekanntgegebenen Rücktritt des Monarchen verfasst. Dabei hat er richtigerweise auf die Kosten hingewiesen, die die Monarchie derzeit gerade in Belgien verschlingt, wo es drei Königinnen und zwei Könige gibt, zumindest ab dem 21. Juli: Ex-Königin Fabiola, der noch-König Albert und seine Frau Paola, und der künftige König Felipe und seine Frau Matthilde. Mir ist aber ein anderer Aspekt viel wichtiger.

Die Nation der Belgier ist noch gar nicht besonders alt. Im Widerstand gegen den niederländischen König Willem I. (1815-1840) wurde sie erst wirklich geschmiedet. Da schlossen sich die niederländisch sprechenden Flamen mit den französisch sprechenden Vallonen zusammen. Beide einte sie der katholische Glaube und der Widerstand gegen den protestantischen und recht diktatorisch herrschenden Holländer. Zwar gab es auch eine kulturelle Grenze zwischen den beiden Landesteilen, aber bis heute fühlen sich die Flamen zumindest den Niederländern oft näher als den vallonischen Nachbarn. Die immerhin identifizierten sich mit dem neuen Staat Belgien ab 1830, bildeten sie doch zwar nicht die Bevölkerungsmehrheit, so doch die gesellschaftliche und politische Elite des Landes. Das Königshaus wurde aus Deutschland importiert, es legte immer Wert darauf, sich beiden Landesteilen gleich stark verpflichtet zu fühlen. So ist Belgien eine aus dem Widerstand, dem gemeinsamen Glauben und 200 Jahren gemeinsamer Entwicklung entstandene Nation.

Seit einigen Jahrzehnten eskaliert der sogenannte Sprachenstreit in Belgien immer mehr. Das Land ist bekannt für seine Kompromissfähigkeit, aber gerade in den letzten Jahren wurde das zunehmend schwieriger. Die starke föderale Gewalt wurde eingedämmt zugunsten regionaler Gewalten. Es gibt in Belgien Provinzen, die praktisch nichts zu melden haben, Gemeinschaften, die nach Sprachen gegliedert sind, und Regionen, die Gebietskörperschaften der sprachlichen Teilnationen. Dies alles wurde in den achtziger und neunziger Jahren eingeführt, um das Land zusammenzuhalten, aber es war fast vergebens. In Flandern gewannen die Nationalisten immer mehr die Oberhand. Sie wollten vor allem nicht für die vallonischen Mitbürger zahlen, denn inzwischen war der flämische Norden wirtschaftlich stärker geworden, während der vallonische Süden in der Wirtschaftskraft nachließ und Unterstützung benötigte. Und dann gibt es da noch die zweisprachige Region Brüssel, die keiner Sprachgemeinschaft angehört. Also haben wir Vallonen, Flamen und im Osten ein paar Deutsche. Wer aber ist echt und genuin Belgier? Die Königsfamilie. Sie ist, kein Witz, keiner der drei Sprachengemeinschaften zuzurechnen, oder allen dreien. Der König ist weder Flame noch Vallone, noch gehört er der deutschen Minderheit an, er gehört allen Sprachgruppen von Natur aus an. Die Königsfamilie spricht immer alle Sprachen des Landes, die Königskinder lernen sie von Kindheit an.

Der einzig echte Belgier ist der König, sage ich manchmal. In den letzten Jahren hat er das unter Beweis stellen müssen. Die flämischen Nationalisten liebäugelten offen mit der Spaltung des Landes und blockierten seit 2007 jede Regierungsbildung. Ohne sie lief nichts in der Föderalregierung. Erst ein Zusammenschluss praktisch aller anderen Parteien ermöglichte vor 3 Jahren endlich eine neue Regierung. Diese setzte den Kurs für mehr Autonomie der Regionen und Gemeinschaften fort. Aber diese neue Regierung wäre nicht gekommen, wenn König Albert, der jetzt seinen Rücktritt ankündigte, damals nicht eingegriffen hätte. In freundlichem Ton aber aggressiv kämpferischer Körpersprache forderte er das politische Establishment Belgiens auf, sich zu bewegen und die langwierigen Verhandlungen endlich zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Seine Brandrede hatte Erfolg, es konnte eine neue Regierung gebildet werden, der jahrzehnte lang ausgefochtene Streit um einen kleinen Wahlkreis in der Region Brüssel konnte endlich beigelegt werden. Diese Stabilisierung ist in der Hauptsache König Alberts Verdienst. Im nächsten Jahr sind wieder Wahlen, vermutlich kehrt die Staatskrise dann zurück, die Nationalisten rüsten sich schon wieder. In einer solchen Situation hätte der jetzt 79jährige König nicht zurücktreten können, also tat er es jetzt, damit sein Sohn noch genügend Zeit hat, sich auf die kommende Krise vorzubereiten.

Die einzigen, die neben Albert und seiner Familie vielleicht noch echte Belgier sind, sind die Mitglieder der deutschsprachigen Gemeinschaft. Sie wollen tatsächlich nicht nach Deutschland zurück und bieten sich in der oft festgefahrenen Bundespolitik des Landes immer mal wieder als ehrlicher Makler an. “Ich bin Belgier”, sagte mir Alexander Homann, der jetzige ständige Vertreter der deutschsprachigen Gemeinschaft bei der Föderalregierung, vor einigen Jahren in einem Interview auf die Frage, welcher Nationalität er sei. Und auch als ich betonte, dass ich nicht die Staatsangehörigkeit, sondern die kulturelle Zugehörigkeit meinte, wiederholte er lachend: “Ich bin Belgier.” Solange es Menschen wie Alexander Homann und den König gibt, besteht durchaus noch Hoffnung für Belgien, das Musterbeispiel eines Staates mit mehreren kulturellen Volksgemeinschaften. Trotzdem wird es der neue König nicht leicht haben.

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