Der Einsiedler: Zwischen Wahnsinn und Scharfsinn in Schweden [Lifestyle X]

Bewaffnet mit ausreichend Vorräten, Zeichenstiften, Ukulele und Lesestoff bin ich in eine schwedische Blockhütte gezogen. In der sozialen Isolation wurde mir der Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit bewusst. Es war ein intensiver Monat mit vielen Erkenntnissen.

Warst du jemals mehr als 24 Stunden allein? So richtig isoliert, ohne andere Menschen zu sehen, dich zu unterhalten, zu telefonieren oder zu Whatsappen?

Ich nicht. Länger als einen Tag habe ich soziale Isolation nie erlebt. Im vergangenen Jahr verbrachte ich viel Zeit für mich, dennoch hatte ich immer Kontakt zu anderen. Selbst im Schweigekloster gab es diese Verbindung, wenn auch nonverbal.

Sobald früher einer meiner Freunde am Freitagabend zuhause blieb, fragte ich besorgt nach, ob alles okay sei. Aus Angst, etwas zu verpassen, war ich ständig auf Achse, hatte immer Leute um mich rum. Heute verstehe ich, dass ich vor der Gesellschaft mit mir selbst geflohen bin.

Sobald die ununterbrochene Verbundenheit und Beeinflussung pausiert, wird es still. Dann bekommt der Kopf seine Ruhe, um lange Zeit nicht gedachte Gedanken an die Oberfläche zu holen. Nicht alles, was aus dem Verborgenen kommt, ist erfreulich.

Dass ich zwar Glück teilen kann, meine Dämonen aber allein bezwingen muss, habe ich in Schweden begriffen. In dem Monat sozialer Isolation wurde mir auch bewusst, welch große Klarheit das Gespräch mit meinem Inneren bringt.

Dieser Selbstversuch war gewissermaßen die Kombination aller bisherigen Lifestyle X Experimente. Ich lebte komplett anonym, hatte am Morgen ein fruganes Frühstück, trainierte am Vormittag, versorgte mich selbst, saß bei Sonnenschein nackt auf der Terrasse und reduzierte meinen Müll auf ein Minimum.

Kurzzeitig spielte ich sogar mit dem Gedanken, das kommende Experiment, der Schlaflose, bereits in Schweden zu beginnen. Dann dämmerte mir glücklicherweise, dass mich 22 Stunden Wachzeit am Tag ziemlich sicher in den Wahnsinn getrieben hätten. Auch vier Wochen mit normalem Schlafrythmus sollten reichen, um mich ordentlich durchzuschütteln.

Für das Einsiedlertum gibt es wohl kaum eine bessere Gegend als den hohen Norden. Deshalb bin ich in das Land gefahren, in dem nicht die Ortschaften, sondern die Häuser Namen haben.

Die Hütte Bränna in Schweden

Am 02.08. ging es mit der Nachtfähre von Rostock ins schwedische Trelleborg. Nach vier Stunden Autofahrt über Malmö, Helsingborg und Ljungby kam ich in der Region Ydre an.

50 km vor meiner Destination noch ein Stopp, um ein paar E-Mails zu beantworten. Erstaunlicherweise hatte ich mitten im Nirgendwo LTE-Netz. Das gab es während der gesamten Fahrt durch Mecklenburg-Vorpommern nicht.

14 km vor dem Ziel fuhr ich durch Österbymo, die mit 800 Einwohnern letzte „Stadt". Einige Kilometer hinter dem Ortsausgang verließ ich die geteerte Straße. Nach weiteren 15 Minuten auf einer Schotterpiste durch die wilde schwedische Natur erreichte ich die Hütte Bränna.

Das Haus war super ausgestattet, hatte eine versteckte Terrasse, eine Hängematte, zwei Schlafzimmer und einen riesigen Garten. Über Airbnb habe ich 1.100 Euro für einen Monat bezahlt. Da hier eine vierköpfige Familie Platz hat, ein fairer Preis.

Einen 20-minütigen Fußmarsch durch den Wald entfernt, liegt der See Sommen. Glasklares Wasser, angenehme Temperaturen und keine Menschenseele weit und breit. Auf der gegenüberliegenden Seite ging es in den Rocks Mosse Nationalpark, dem ich nach einem traumatischen Wandererlebnis nur noch den Rücken zeigte.

Es gab vereinzelt andere Häuser, die einige Kilometer entfernt lagen, aber nicht bewohnt schienen. Alle paar Tage verirrte sich mal ein Auto in die Gegend, menschlicher Kontakt blieb jedoch aus.

Die Angst vor dem Hungertod

Bereits in Deutschland habe ich das Auto mit Lebensmitteln vollgeladen. Keine leichte Aufgabe. Hast du schonmal Vorräte für einen gesamten Monat gekauft? Warum auch, wir bekommen ja rund um die Uhr, nach was es uns begehrt.

Auf meinen ersten größeren Reisen packte ich immer zu viele Klamotten ein. Diesmal erging es mir mit den Lebensmitteln genauso. Aus Angst vor dem Verhungern habe ich beim Einkaufen im Großhandel ordentlich gehamstert.

Für rund 200 Euro landeten Großpackungen Kartoffeln, Nudeln, Reis und Salami in meinem Einkaufskorb. Gewürze, Zwiebeln, Salatgurken, Äpfel, Orangen, Zitronen und ein Weißkohl sorgten für Vitamine. Aus dem Frischeregal kamen Riesenpackungen Joghurt, Eier sowie jeweils zwei Liter Creme fraiche und Kokosmilch dazu.

Um mich für den Notfall abzusichern noch Konserven mit Eintöpfen, geschälten Tomaten, Mais und Erbsen. Für den süßen Gaumen nahm ich Himbeeren, Apfelmus, Schokolade und Kekse mit. Zu Trinken gab es Tee und einen Kasten Rhabarbersaft. Kaffee und Alkohol blieben zu Hause.

Als letzte Sicherheitsmaßnahme hatte ich sogar 20 Packungen Jake Shake dabei. Das Pulver ist nicht unbedingt eine Geschmacksexplosion, sättigt aber und enthält alle Nährstoffe für eine vollwertige Mahlzeit.

Wahrscheinlich kannst du dir denken, dass fast die Hälfte der Einkäufe wieder mit zurückgefahren sind. An Essen mangelte es also nicht, dafür an Gesellschaft. Die hat mir beim Kochen besonder gefehlt.

Was ich außerdem vermisste, waren frische Zutaten. Nachdem sich in dritten Woche das Verderbliche aufbrauchte, gab es nur noch Suppen, Kartoffeln und Pasta. Meine zwei Mahlzeiten am Tag schmeckten nicht schlecht, waren aber eintönig. Essen wurde vom Genuss zur Zweckmäßigkeit.

Kreatives, Langeweile und Nichtstun

Eine tägliche Routine gibt Halt. Das kann nicht schaden in der Einsamkeit, dachte ich mir. Jeden Tag wollte ich Ukulele spielen, Sport treiben, Wandern, Schreiben, Zeichnen und dabei den Müßiggang nicht vergessen. Sogar feste Tageszeiten habe ich für alle Aktivitäten eingeplant.

Pustekuchen. Anstatt mich an die Agenda zu halten, machte ich, wonach mir der Sinn stand. In den ersten beiden Tagen genoss ich die Alleinzeit, danach trieben mich Stimmungsschwankungen bald in den Wahnsinn. Mir fehlt der Antrieb für das, was ich mir vorgenommen hatte.

Neben Streifzügen durch die Wälder verbrachte ich viel Zeit mit Lesen. Am Abend saß ich meist auf der Veranda, schwelgte in Erinnerungen und hörte die Elche röhren. Dann übermannte mich etwas, das mir bis dahin völlig unbekannt war. Langeweile.

In 35 Jahren ist mir noch nie langweilig gewesen. Es gab immer Dinge zu tun. Kein einziges Mal kam die Frage auf, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte. Diese ersten Tage in Schweden zwangen mich erstmals dazu, echten Überdruss zu empfinden. Es dauerte eine Weile, bis ich akzeptieren konnte, die Stunden inhaltslos verstreichen zu lassen.

Meine wirren Gedanken übernahmen die Kontrolle. Nach einer Woche hatte ich genug davon. Ablenkung fand ich in der Arbeit. Beim Schreiben in einen angenehmen Flow, was wohl daran lag, dass es keine störenden Unterbrechungen gab. Es regnete viel, weshalb ich wenig draußen war, selten Pausen machte und kaum merkte, wie die Zeit verging.

Dann passierte, was passieren musste. Mir fiel die Decke auf den Kopf. Ich brauchte dringend wieder Abwechslung. Im letzten Drittel des Monats gelang es mir endlich, eine feste Routine zu entwickeln, die sich nicht wie Zwang anfühlte.

Mein Tag begann gegen 8 Uhr mit Ukulele spielen. Der Vormittag galt dem Schreiben am Laptop. Nach dem Mittagessen las ich ein paar Stunden oder starrte aus dem Fenster. Am späten Nachmittag wieder eine Arbeitseinheit, bevor ich abends lange Spaziergänge unternahm. Dann Abendessen und um 22 Uhr zum Lesen ins Bett.

Erst in diesen letzten zehn Tagen konnte ich das Alleinsein wirklich genießen. Nicht mehr die bedrückende Einsamkeit, sondern das Geschenk des Für-mich-seins stand im Vordergrund.

Weder das Reden noch Facebook haben mir gefehlt. Gemangelt hat es mir vor allem an Verbundenheit, an Nähe, an Bestätigung. Doch genau dieser Mangel zwang mich, eine tiefere Beziehung zu mir selbst zu suchen.

Zum Monatsende hin stieg die Vorfreude auf Gesellschaft, dennoch bin ich dankbar für diese Erfahrung. Viele Gedanken haben sich geordnet. Sie sind deutlich klarer. Und einigen lange unterdrückten Dämonen konnte ich in die Augen schauen.

Liebes Tagebuch ...

Mal mehr, mal weniger regelmäßiger schreibe ich ein Journal. Es Tagebuch zu nennen, wäre übertrieben. In meiner Day One App halte ich Gedanken, Bilder und Gelesenes fest. Je nachdem, was gerade so los ist.

Im August wurde das Journal jeden Tag mit langen Einträgen verwöhnt. Schließlich gab es nur diese eine Möglichkeit, mich mitzuteilen. Die folgenden Auszüge geben dir Einblicke in meine emotionale Achterbahn.

Tag 2: Nach dem Aufstehen barfuß auf dem feuchten Moosrasen spaziert. Danach rein, ein Kreuz im Kalender machen. Fühlt sich an, wie ein Türchen im Weihnachtskalender öffnen. Mir wird bewusst, dass ich hier unendlich viel Zeit habe. Zeitmillionär! Anstatt geplanter Routine bis um 18 Uhr zwei Bücher ausgelesen. Das schlechte Gewissen hält sich in Grenzen.

Tag 4: Mir fehlt jemand zum Reden. Ich vermisse Nähe. Will meine Erlebnisse und Gedanken teilen. Null Motivation zum Arbeiten. Keine Lust auf Sport. Für den Rest des Tages geht nur noch Lesen, in der Hängematte dösen und früh ins Bett. Isolationshaft wird nicht umsonst als harte Bestrafung genutzt.

Tag 6: Heute das Auto gewaschen. Die Handarbeit hat kurzzeitig befriedigt. Ansonsten versuche ich mich an der Ukulele, arbeite ein paar Stunden und lese. Bin noch nicht so richtig angekommen.

Tag 7: Ein Buch über das Alleinseins sagt, dass Defizite an körperlicher Nähe durch die Natur ausgeglichen werden. Blumen riechen, den Boden spüren und die Sonnenstrahlen aufsaugen. Also gehe ich wandern. Fliegen kriechen mir in Nase und Ohren. Ein Wespenstich direkt in die Kniescheibe. Sträucher zerschrammen meine Beine. Ich sinke bis zum Bauchnabel in stinkenden Morast ein. Nach der Rückkehr merke ich, dass mein Körper mit Flöhen übersät ist. Das war nicht die liebevolle Umarmung, die ich mir von der Natur erhofft habe.

Tag 8: Ein guter Tag. Keine Kopfschmerzen. Vier Stunden am See gelegen, den Wellen gelauscht. Date with myself. Das war Balsam für die Seele. Die Einsamkeit macht den Kopf leer. Die Gedanken werden langsam klarer.

Tag 9: Wieder mit Tee, Keksen und genug Lesestoff runter zum See. 30 Minuten Abenteuertour durch den Wald halten mich bei Laune. Die Ruhe in der Hütte ist nicht lange auszuhalten. Abends schaue ich alte Fotos an, höre Musik und starre stundenlang in den Himmel. Stimmung schwankt zwischen Euphorie und depressiver Nostalgie. Gehe um 22 Uhr ins Bett, lese, kann aber bis 2 Uhr nicht einschlafen. Silence is a bitch.

Tag 10: Bin übersät mit Flohbissen. Habe alle Klamotten und das Bettzeug gewaschen, bis mir klar wurde, dass ich die Flöhe aus dem Wald mitbringe. Die Lust auf Wanderungen ist erstmal gestillt.

Tag 12: Heute endlich mal keine großen emotionalen Highlights. Wetter wird schlechter. Bin fast den ganzen Tag im Haus, stürze mich in Arbeit. Beim Schreiben komme ich in den Flow und vergesse, dass ich allein bin. Seit zwei Tagen nicht geduscht. Warum auch? Verfalle in Gleichgültigkeit, bis ich mich selber anstinke.

Tag 13: Kleinigkeiten machen so glücklich. Kann mittlerweile Twinkle Twinkle auf der Ukulele spielen. Das macht auch Spaß, wenn niemand klatscht.

Tag 14: Mittags wollte ich bis zur Spitze der Halbinsel laufen. Gedanken quälen mich. Auf der Hälfte beginnt ein heftiger Regen. Umdrehen. Keine Motivation zum Schreiben. Lesen. Schlafen. Um 19 Uhr wieder aufgestanden und nachdenklich draußen gesessen.

Tag 15: Heute zwei neue Artikel geschrieben. Um 20 Uhr musste ich raus. Ein bedrängendes Gefühl kam auf. In der Dämmerung runter zum See. Das hat mich runtergebracht. Jetzt fange ich wieder an, die Tage zu zählen.

Tag 17: Joghurt ist sauer, Eier sind aus, nichts mehr Frisches im Kühlschrank. Abwechselnd gibt es Kartoffeln und Nudeln. Habe keinen Spaß am Kochen. Essen ohne Gesellschaft wird zur reinen Energieaufnahme.

Tag 18: Seit drei Tagen nicht mehr das Haus verlassen. Sporadisch Sport machen, Ukulele spielen und viel schreiben. Lese ein paar Stunden in der griechischen Mythologie. Ansonsten passiert nichts. Muss mich zum Duschen zwingen.

Tag 19: Schreibe jeden Tag 6 - 8 Stunden an der kommenden Auflage für mein Buch. Bin in einem wahnsinnig kreativen Flow, so fokussiert, dass wenig Platz für andere Gedanken bleibt. Die Ablenkung tut meinem Kopf gut. Aber bin ich deshalb hier? Ab morgen wieder mehr Nichtstun!

Tag 21: Bei einer Wanderung kommt mir ein Auto entgegen. Der Fahrer winkt im Vorbeifahren. Erster menschlicher Kontakt seit drei Wochen, der mich noch Stunden danach lächeln lässt. Ich merke, wie sehr mir das Gefühl der Verbundenheit fehlt.

Tag 24: Seit ein paar Tagen eine Routine gefunden und das Alleinsein endlich so richtig akzeptiert. Gegen 8 Uhr Aufstehen, Ukulele, Schreiben, Mittag, Lesen, Schreiben, Wandern, Dinner, Lesen, gegen 22 Uhr ins Bett.

Tag 25: Mache jeden Abend einen einstündigen Spaziergang zum See. Das Wetter ist schlecht geworden, um die 15 Grad, viel Regen. Der Wald ist mystisch. Meine Gedanken sind manchmal so ruhig wie das Wasser. Dann, als wenn ich einen Stein reinschmeiße, schlagen sie Wellen in alle Richtungen. Lasse sie treiben und beobachte. Habe Frieden geschlossen. Mit Schweden. Mit dem Alleinsein. Mit mir.

Tag 27: Morgen geht es zurück. Rasieren, Sachen packen, Wäsche machen, Aufräumen. Freue mich auf Gesellschaft und darauf, meine Erlebnisse zu teilen. Konnte in den letzten Tagen viel Klarheit gewinnen. Fühle mich inspiriert. Empfinde eine angenehme Balance. Große Vorfreude auf das, was kommt.

Urlaub für den Verstand, Arbeit für die Seele

„Einsamkeit heißt, Menschen zu vermissen. Alleinsein heißt, sich selbst zu genügen." - Anthony de Mello

Wenn du in einer Beziehung lebst, freust du dich sicher auf gelegentliche Alleinzeit. Der Abend mit einem unterhaltsamen Film und Pizza auf der Couch wird zum Genuss. Freiwilliges Alleinsein ist ein Privileg.

Anders ist es in dem Moment, in dem das das Grundbedürfnis nach Verbundenheit unerfüllt bleibt. Dann geht es vom Zustand des Alleinseins in die Einsamkeit. Es ist ein Mangel, kein Wunsch. Die wenigsten von uns sind über längere Zeit allein, doch sind immer mehr Leute einsam.

Um einsam zu sein, braucht es keine abgelegene Hütte im Wald. Einsamkeit kann ich auch in einer Partnerschaft empfinden. Genauso fühle ich mich manchmal isoliert, obwohl ich von vielen Menschen umgeben bin.

Einsamkeit wird immer mehr zum gesellschaftlichen Problem, woran die zunehmende Individualisierung eine Mitschuld trägt. Jeder macht heute sein Ding, anstatt sich in gemeinschaftliche Aktivitäten einzubinden. Es bleibt das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören.

Was dann fehlt, sind Geborgenheit und Nähe. Es mangelt an dem Botenstoff Oxytocin, der bei Umarmungen oder liebevollen Berührungen durch andere Menschen ausgeschüttet wird, und für ein angenehmes Körpergefühl sorgt. Soziale Isolation erhöht laut Studien das Risiko für Herzerkrankungen, Schlaganfall und Alzheimer. Damit ist sie gefährlicher als Fettleibigkeit.

Eine andere Studie will herausgefunden haben, dass die Vereinsamung zunimmt, je mehr Zeit in sozialen Netzwerken verbracht wird. Viele alte Menschen sind chronisch einsam. Der Fernseher ist ihre einzige Gesellschaft.

In einer Phase, in der wir so verbunden sind, wie nie zuvor, fühlen sich immer mehr von uns isoliert. Leider können wir das Alleinsein nicht als Geschenk annehmen, denn wir haben verlernt, mit uns selbst zu sein.

In Schweden ist mir aufgefallen, warum ich nicht gerne allein bin. Es ist die Sehnsucht nach Bestätigung. Mein Selbstbewusstsein wird normalerweise durch andere Personen oder die Arbeit bestärkt. Ohne Gesellschaft ist keiner da, der in die Hände klatscht und sagt „toll gemacht, Sebastian". Im Alleinsein muss dieser Selbstwert aus der eigenen Akzeptanz kommen.

Vieles erscheint plötzlich sinnlos, wenn ich es nicht teilen kann. Aufwändig kochen, Haare kämmen, Abenteuer erleben. Mir wird bewusst, wie wenig Dinge ich nur für mich mache. Ich stelle mir der Frage, wer ich eigentlich bin, wenn niemand zuschaut?

Dämonen

„Der Mensch, der nur sich selber liebt, haßt nichts so sehr, als mit sich selbst allein zu sein." - Blaise Pascal

Im Alleinsein ist niemand da, der mir Gedanken und Schmerzen abnimmt. Ich bin meinen Schwächen ausgeliefert. Was bleibt, ist das stumme Zwiegespräch mit mir selbst.

Glück kann ich mit anderen Menschen teilen. Mit meinen inneren Dämonen muss ich allein klarkommen. Mir sind viele Gedanken durch den Kopf geschossen. Einige Dinge aus der Vergangenheit, die ich vergessen oder verdrängt habe.

Bedauern über nicht gelebte Träume. Quälende Fragen zu Was-Wäre-Wenn-Szenarien. Nicht abgeschlossene Beziehungen, Wut, Trauer und unterdrückte Emotionen kommen ans Tageslicht. Sie alle wollen gefühlt und verarbeitet werden.

Die inneren Stimmen, die im Alltagslärm nicht hörbar sind, dringen in der Einsamkeit durch. Wenn ich aufmerksam zuhöre, bringen sie ungeahnte Weisheiten an die Oberfläche. Erst in der Stille erkenne ich die Tiefe und Zusammenhänge der Gedanken, die sonst so wirr erscheinen.

Einige dieser hochgespülten Dinge gefallen mir, andere überhaupt nicht. Letztendlich sehe ich mich so, wie ich bin, mit allen Verfehlungen und Qualitäten, die mich als Person ausmachen. Eine Flucht in die Ablenkungen des Alltags ist keine Option.

Ablenkungen

„Ich habe begonnen, mir selbst ein Freund zu sein. Damit ist schon viel gewonnen, denn man kann dann nie mehr einsam sein." - Seneca

Durch ständige Gesellschaft, das Internet und die Arbeit wehre ich mich gegen das innere Gespräch. Ich kämpfe und renne davon, bis ich erschöpft aufgeben muss. Erst wenn ich diese Flucht beende, lasse ich die Stille zu, die mein Unterbewusstsein braucht, um mit mir Kontakt aufzunehmen.

Wir bekommen ständig Impulse von unserer Umwelt, haben aber keine Zeit, diese wirklich zu verdauen. Auf die unverdauten Eindrücke wird immer mehr obendrauf gepackt. Das Aufschichten ist weniger anstrengend als die Müllhalde der Empfindungen aufzuräumen.

Irgendwann erdrückt mich dieser Ballast. Der Kopf braucht eine Pause. Ich merke, wie aktiv mein Gehirn in der Alleinzeit ist. Dann räumt es auf und sortiert all die gewonnenen Reize, bis sie einen Sinn ergeben.

In der Zurückgezogenheit habe ich nicht nur die Umwelt viel bewusster wahrgenommen, sondern auch meine Bedürfnisse, die sich im Alltag nicht klar von aufgezwungenen Begierden unterscheiden lassen. Zu erkennen, wo die Erwartungen von anderen enden und die eigenen Empfindungen beginnen, ist keine leichte Aufgabe.

Das Alleinsein hat mir dabei geholfen, den gedanklichen Müll in meinem Kopf von den Dingen zu trennen, die ich behalten möchte. Dafür brauche ich eine Ruheoase, ohne ununterbrochene Verbundenheit.

Kreativität

„Alleinsein macht gut Schaffen. Keiner, dessen Widerspruch stört, keiner, dessen Einwand Zweifel schürt." - Tom Borg

Archimedes saß in der Badewanne, Nietzsche in den Bergen, Descartes vor dem Holzofen, Goethe in Italien und Newton unter dem Apfelbaum - alle waren sie allein zum Höhepunkt ihrer Schöpfungen.

Alleinsein ist gewissermaßen die Voraussetzung für eigenständiges Denken. Nur wenn ich allein sein kann, bin ich unabhängig von all den äußeren Einflüssen, die mich manipulieren. Genau deshalb wird Privatsphäre in totalitären Staaten verhindert. Das dauernde Gefühl, beobachtet zu werden, lässt keine freien Gedanken zu. Kontrolle und Kreativität schließen sich aus.

Erst wenn ich nie da gewesene Gedanken und Empfindungen zulasse, kann wirklich Neues entstehen. Etwas Inspirierendes, dass normalerweise von den Meinungen da draußen unterdrückt wird.

Ideen gegen konventionelle Ansichten von Menschen um uns herum zu verteidigen, ist anstrengend. Wir lassen uns leicht beeinflussen und laufen Gefahr, gute Ansätze nicht weiterzuverfolgen.

Sobald wir nur das Feedback unseres Innersten zulassen, können diese Ideen ihr volles Potenzial entfalten. Auch das hat für mich wunderbar in der Einsamkeit funktioniert. Ohne den störenden Lärm von außen konnte ich Eingebungen in aller Ruhe reifen lassen.

Es braucht wohl einen gesunden Mix aus Reizen und Ruhepause, aus Austausch und Stille. Sichtweisen von anderen aufzunehmen, kann genauso fruchtbar wie verwirrend sein. Mir ist Feedback für meine Gedanken wichtig, dennoch brauche ich Zeit, um diese ohne Beeinflussungen zu entwickeln.

Wachstum

„Die Einsamkeit ist der vertraute Umgang mit sich selbst." - Robert Schumann

Alleinsein heißt, in das Unbekannte aufzubrechen. Das, was Sicherheit und Schutz bietet, loszulassen. Wenn ich mich auf niemand anderen stützen kann, bin ich gezwungen, mich auf meine eigenen Kräfte zu verlassen. Das sorgt für Weiterentwicklung.

Echte Sicherheit bekomme ich nicht von außen, sondern durch das Erkenntnis meines Selbstwertes. Diese innere Unabhängigkeit konnte ich im Alleinsein gut trainieren.

Ohne all die Störfaktoren des Alltags kehrt eine Harmonie ein. Wenn das Ego nicht ständig bestätigt wird, bekommt die Seele endlich Raum, um sich zu entfalten.

Ohne die Bestätigung erkenne ich mein Eigenes Selbst. Die Personen, die hinter dem Ego steckt. Nicht die von außen zugetragenen Bedürfnisse, sondern mich in rohster Form. Mit allen guten und weniger guten Eigenschaften.

Mich hat das zu einigen Aha-Momenten geführt. Die Zurückgezogenheit brachte mir Klarheit über meinen Weg. Wer bin ich? Warum bin ich hier? Die Antworten darauf finde ich nicht außerhalb, sondern tief im Inneren. Dafür braucht es Stille.

Liebe, Glück und Sinn finden wir nicht mit dem Verstand. Sie liegen verschüttet unter all den Gefühlen, die das Selbst unterdrücken. Wenn wir uns von Ego, Gelüsten, Trauer, Angst und Ungeduld freimachen, erscheint echte Verbundenheit.

„Am schöpferischsten ist der Mensch im Aufruhr der Gedanken und Gefühle." - Gerlinde Nyncke

Eremiten leben allein in Wüsten oder Höhlen, fühlen sich aber trotzdem verbunden. Mit der Natur, der Welt, einem Gott oder ihrem Selbst. So wenig ich in einer Höhle leben möchte, so sehr wurde mir bewusst, wie schnell in unserem oberflächlichen Alltag Störfaktoren mit dem Wesentlichen verschwimmen.

Ungewollte Isolation hat zur Folge, dass sich irgendwann alles nur noch um die eigene Person dreht. Auf der anderen Seite führt permanente Gesellschaft dazu, dass wir keine eigenen Ansichten und Bedürfnisse entwickeln.

Es braucht Phasen der Inspiration und solche, in denen wir mit der nötigen Ruhe die neuen Reize verarbeiten. Wie immer im Leben geht es um Balance, den ständigen Wechsel zwischen Einsamkeit und Gemeinsamkeit.

Auch wenn ich mich nicht wie ein Eremit von der Zivilisation abwenden möchte, kann ein wenig mehr Einsiedlertum nicht schaden. Eine gelegentliche Abkehr von all den Dogmen, Störfaktoren und Verführungen hilft mir dabei, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Nachdem ich am Monatsende wieder in die Zivilisation zurückkehrte, wurde ich regelrecht erschlagen von Eindrücken. Es ist dieser konstante Geräuschpegel, den ich im Alltag schon für normal empfinde. Der Lärm kommt nicht nur von der Straße und den Menschenmassen. Besonders laut sind Smartphone, Laptop und Nachrichten.

Ich möchte mich in Zukunft öfter mit mir selbst verabreden. Dazu muss ich nicht in eine einsame Hütte nach Schweden ziehen, sondern werde auch im Alltag versuchen, allein in bester Gesellschaft zu sein.


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