Der einsame sechste Stock oder wie ich an einem normalen Fünften unvermutet aus der Zeit fiel

Von Xeniana

Bei Frau Brüllen ist heute Tagebuchbloggen und ich bin mit dabei.  Der Tag begann ganz normal.  Nichts kündete den weiteren Verlauf an. Seit gestern bin ich Matthias Meyer- Göllner Fan, der hat mit uns einen Tag lang gesungen. Es war definitiv das beste Seminar der ganzen Waldpädagogikfortbildung und leider auch das letzte. Schade, denn die Gruppe war toll. Wir hatten wirklich Spaß. Aber es geht ja nicht um den Vierten.

Noch beschwingt vom musizieren starte ich früh in den Tag.  Die Hausarbeit muss vom Tisch.  Die Jüngste möchte Pancakes. Ich singe „woawoawoaoowa“, wende die Pancakes.

„Das ist der Hausfrauengroove“ sage ich dem Gatten, der mich fragend ansieht.

„Du machst den Twang nicht. Atme mal in den Bauch.“ Dann geht er arbeiten, lässt mich allein mit dem Twang. Ich setze mich an den Computer. Warum fördert Apfelsaftpressen die soziale Kompetenz? Mathematik, Kunst, Universum, Nachhaltigkeit, Bildungsleitlinien. Die Schreibblockade ist nach einer Ewigkeit überwunden, da wollen die Kinder Mittagessen. Kartoffeln vom Vortag in die Pfanne, Reibekäse drauf, fertig. Guten Mutes wieder an die sozialpädagogische Apfelverwertung gesetzt. Die Freundin schreibt auf Whats App: „Der Tatort letzte Woche war richtig gut!“ Ich sehe nur noch sporadisch Tatort, aus Zeitmangel. Ein dumpfer Schmerz am Zahn. Er macht sich seit einer Woche bemerkbar. Den Zahn interessiert es nicht, dass ich keine Zeit habe. Ich muss diese Apfelverwertungsarbeit schreiben. Irgendwann als auch die zweite Schmerztablette nicht hilft, fahre ich in die Zahnklinik. Der Schmerz muss weg!

Und dann begann es….

Angekommen wate ich durch Pfützen, Dreck, pladdernden Regen zum Hochhaus.  Es Dämmerlicht trotz nachmittäglicher Zeit. Es hätte mir auffallen müssen. Niemand ist unterwegs. „Da musst du hin“, hatte der Gatte gesagt und auf das Hochhaus gedeutet. „An der Anmeldung helfen sie dir weiter.“  Die Wahrheit ist: Niemand ist an der Anmeldung. Am Notrufknopf steht: „Das ist kein Anmeldeknopf, bitte benutzen sie das Telefon auf der  anderen Seite!“  Ich wende mich um. Es ist wie bei „Stalker“ von Tarkowski, die Szene bei der  inmitten des Nichts ein Telefon klingelt. Ich wähle die Nummer für Sonntag. Eine müde Stimme meldet sich schleppend, tonlos: “ Nehmen sie den Aufzug, fahren sie in den 6. Stock, füllen sie den gelben Zettel aus und warten sie.  Es ist als wäre die Zeit verlangsamt, das Licht fahler, die Stille bleiern.“  Es muss eine weise Eingebung gewesen sein den Halloweentatort nicht zu sehen. Fahrstuhl ohne Aussicht. Niemand ist hier. Niemand wird mich retten wenn das Aluminiumgefährt steckenbleibt oder sonstwohin fährt. Ich atme tief durch, trete ein, drücke den Knopf , die Türen wollen nicht schließen. Noch könnte ich umkehren. Da setzt er sich ruckelnd in Bewegung. Ab dem 4. Stock  beginnt er scheppernd zu schuckeln. Ich berechne die Fallhöhe, so ungefähr. Niemand ist hier. Ich nehme die rechte Tür, die für die Kassenpatienten, auch im Wartezimmer ist niemand. Es ist eine Borowskitatortstimmung mit Anteilen von Tarkowski. Fahles Licht, Stille, nur die Schritte hallen.  Auch im Wartezimmer ist keiner.  Die gelben Zettel finde ich vor, fülle einen davon aus, warte. „Bin im 6. Stock“, schreibe ich dem Gatten sicherheitshalber. Ich fühle mich wie aus der Zeit gefallen oder aus dem Leben oder Beides. Eine Zeit später, wer kann schon sagen wann, kommt die Frau mit der müden Stimme. „Kommen sie.“ Dann sitze ich allein in einem Hochhaus im 6. Stock, in einem Zahnarztstuhl, schaue auf graues Meer und grauen Himmel, Möwen deren Schreien man nur sieht aber nicht hört, menschenleere Landschaft. Tristesse, Melancholie, Einsamkeit. Surreal. Plötzlich leichte, schnelle Schritte. Eine junge blonde Ärztin oder Studentin mit zum Zopf gebundenen Haaren, begrüßt mich freundlich mit strahlenden Lächeln. Ihre Worte perlen links und rechts an mir vorbei. In den Zweigen des Baumes ein junger Buntspecht. Ich höre die Worte Entzündung, Wurzel, Röntgen, Wurzel kappen, Zahn ziehen, aber erst morgen. Sie ist wie aus einer anderen Welt, die einsame Tristesse des Hochhauses hat ihr nichts anhaben können.  Sie spritzt eine Betäubung. Ich erhebe mich, danke der Lichtgestalt, der Schmerz ist weg, verspreche gleich morgen zum Zahnarzt zu gehen.  Ruckeln fährt der altersschwache Fahrstuhl nach unten. Es hat aufgehört zu regnen.

Ich bin zurück, am Computer, draußen ist es dunkel, die Äpfel werden heute nicht mehr mental verwertet. Die Teenies backen englisch sprechend Plätzchen. Und ich werde mir den Halloweentatort ansehen, glücklich der 6. Zeit entronnen zu sein, schmerzfrei.