Bei einer Veranstaltung in London, bei der auch, oder besser gesagt: natürlich, Thilo Sarrazin anwesend war, sei es zum Eklat gekommen. Ein junger Mann habe die Anwesenden, unter denen auch die liebenswürdig gedrungene Gestalt des Henryk M. Broder lümmelte, mit dem Ausruf "Ihr seid alle Faschisten!" bedacht. Als ein Eklat wird dieses Verhalten hochgespielt; dabei läge der Eklat nicht im Ausruf selbst, sondern anderswo.
Man kann schon begreifen, warum der junge Mann zu einer solchen Grobschlächtigkeit gegriffen hat. Wer Sarrazins "kleine Geschichte der Eugenik" kennt, wer dessen Hang zu genetischen Rückschlüssen wahrgenommen hat, der muß in einem Anflug von Zivilcourage zu solchen drastischen Verbalmitteln greifen. Das große Aber ist jedoch, dass "Faschist" gänzlich unpassend ist - Faschisten, die gab es in Italien, das waren die Kampfbünde und Schwarzhemden um Mussolini. Faschisten dachten fürwahr totalitär, sie liebten den Frieden nicht unbedingt, waren expansionistisch und inspiriert durch die Geschichte des italienischen Stiefels und damit von der Überlegenheit der eigenen, ehemals römischen Kultur überzeugt. Was sie aber nicht waren, was so gut wie niemals eine Rolle im Fascismo spielte, das waren Erblehre und Rassentheorie.
Im Gegenteil, die Faschisten waren sich ihrer ethnischen Vielschichtigkeit durchaus bewusst. Die razza italiana war kein reinrassiger Verein, man wusste von der Verschmelzung aus Etruskern, Ligurern, Lateinern, Griechen, Langobarden, Normannen und Sarazenen - all diese Völker hatten ihren genetischen Beitrag zur Entstehung der Nation geleistet. Wie hätte man bei einer so weitreichenden Geschichte, mit so weitreichenden ethnischen Verwurzelungen, in der allerlei Völker eine Rolle spielten, von rassischer Reinheit predigen können? Schon die Ursprünglichkeit genetischer Denkweise fehlte im Fascismo also gänzlich. Einer regimekonformen Erblehre war damit das Wasser abgegraben. Die italienischen Faschisten verstanden überhaupt nicht, warum die Hitleristi so antisemitisch waren - Italien verfolgte Juden erst, nachdem das Dritte Reich den Part des mächtigeren Bündnispartners einnahm, weil sich der Duce in seinem Größenwahn vollkommen übernommen hatte. Vormals waren Juden vielleicht nicht besonders beliebt, wie seinerzeit überall in Europa, aber sie aufgrund ihrer rassischen Zusammensetzung zu verfolgen und auszumerzen, das wäre den Faschisten nicht in den Sinn geraten.
"Ihr Faschisten!", rief der junge Mann also den Teilnehmern der Londoner Runde zu. Und das sei ein Eklat, heißt es nun. Der eigentliche Eklat ist aber, dass der junge Mann irrte: Sarrazin kommt einem Faschisten im eigentlichen Wortsinne nicht besonders nahe - er gleicht einem Faschisten deswegen nicht, weil er allergrößten Wert auf Genetik und Volksspezifika legt. Das Wort "Faschist", das gerne als Allgemeinbegriff verwendet wird, um die totalitären Systeme jener stiefelgewichsten Ära unter einen Hut zu bringen, es beinhaltet, wenn überhaupt, nur rudimentär, was im "deutschen Faschismus" das Salz in der stinkenden Suppe war: die scheinbare Wissenschaftlichkeit bekanntlich, die sich erdreistete, Menschen nach Genen zu sortieren, sie damit rassisch einzuordnen. Das war die Spielwiese nicht der "Faschisten im Allgemeinen", es war der Tummelplatz der deutschen Nationalsozialisten!
Und genau das ist der eigentliche Eklat an der Sache: indem er diejenigen, die sich da lobend um Sarrazin versammelten, als "Faschisten" beschimpfte, hat er sie freundlicher und zuvorkommender behandelt, als es angebracht gewesen wäre. Wer dem Rassenkundler nacheifert, der ist kein Faschist: der ist ein Nazi! Der Eklat war demnach, dass er sie nicht beim Namen rief, diese Bande...