Der Ego-Bürger und die fatale Wohltätigkeit der Linken

Verdammt, ich habs doch wieder getan. Ich hab die aktuelle Fleischhauerei gelesen – aber nur, weil er am Anfang eine Geschichte aus dem Buch von Kathrin Hartmann erzählt hat, zu dem ich auch noch etwas schreiben wollte. Oder weniger zum Buch, das habe ich nämlich noch nicht gelesen, dafür aber ein Interview mit Kathrin Hartmann auf Telepolis. Doch dazu später. Fleischhauer behauptet nämlich, dass die Angehörigen der postmateriell orientierten Mittelschicht, zu der er auch die erwähnte Autorin zählt, ein sentimentales Bedürfnis hätten, Hartz-IV-Bezieher generell als Opfer der Gesellschaft zu verklären, während die doch häufig einfach nur zu faul seien, um arbeiten zu gehen. Damit hat er sich natürlich für die Henryk-M-Broder-Medaille mit Eichenlaub für die unkorrekteste Meinung der Woche qualifiziert. Allerdings steht er mit dieser Meinung längst nicht allein auf weiter Flur, im Gegenteil, das Forum unter der Meldung ist voll der Zustimmung von materiell orientierten Ego-Bürgern.

Die Mär vom faulen Hartz-IV-ler, der sich auf Kosten der Deppen, die so doof sind, für ein Gehalt, das kaum höher ist als der Regelsatz für eine vierköpfige Familie, auch noch arbeiten zu gehen, ist durchaus populär. Ich frage mich, wie Fleischhauer darauf kommt, mit dieser Meinung irgendwie originell zu sein – der muss sich doch nur das Ergebnis der letzten Bundestagswahl ansehen, um zu wissen, dass eine Mehrheit in Deutschland genauso tickt wie er. Die Leute haben doch keine Sozialromantiker gewählt, sondern Schwarz-Gelb. Wenn sich das Gelb auch langsam erledigt hat, was kein Verlust ist. Der Konservative fühlt sich gern halt überlegen, aber unverstanden. Deshalb kriegt er auch nicht mit, dass er total Mainstream ist.

Fleischhauer hat übrigens nicht mal unrecht, wenn er behauptet, dass der Sozialstaat so gestrickt sei, dass er die Leute in einer bequemen Abhängigkeit halte – das ist ja der Sinn des Ganzen: Die Leute satt und damit ruhig zu halten. Und dass es eine ganze Industrie gibt, die an den Hartz-IV-lern ganz gut verdient, klar, dass weiß man auch ohne Fleischhauer. Genau wie abzusehen ist, dass es mit der bisher praktizierten Sozialpolitik nicht mehr lange gut gehen wird, weil ja gespart werden muss, damit die Reichen, äh, Leistungsträger, noch mehr Geld für ihr Geld bekommen – wie das geht, kann man in Spanien und Griechenland doch längst besichtigen. Und er hat natürlich auch recht, wenn er sagt, dass mit Sentimentalität und Verklärung niemandem geholfen ist. Dass er sich dann aber nicht entblödet, die populäre Lüge zu wiederholen, dass jeder, der arbeiten wolle, auch Arbeit finden würde, sofern er nicht durch degenerativ bedingtes Sozialschmarotzertum der Arbeit so entwöhnt wäre, dass er sich halt nicht mal mehr um sich oder gar irgendwelchen Nachwuchs kümmern könne, zeigt, dass es Fleischhauer ebenso wenig um eine ernsthafte Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse geht, wie den irgendwie linken Armenfreunden, die er doch genau deshalb kritisiert. Aber wenn man sich erstmal in den Spiegel hochgeschrieben hat, greift vermutlich eine degenerative Gewöhnung an anstrengungloses Geschreibsel um sich, die nur noch am Kontostand des Schreibselers als echte Leistung zu erkennen ist.

So, alles zurück auf Anfang. Kathrin Hartmann hat also ein Buch mit dem Titel “Wir müssen draußen bleiben” geschrieben, über das sie mit Reinhard Jellen (Telepolis) gesprochen hat. Es geht um Gentrifizierung, Elitenbildung, Ausschlussmechanismen, die gnadenlos greifen, wenn man aus irgendeinem Grund aus der Arbeitsgesellschaft heraus fällt (und dafür gibt es durchaus andere Gründe als Faulheit und Unfähigkeit). Hartmann hat sich offenbar ernsthaft mit dem Thema Armut und deren Entstehen befasst. Sie kritisiert die Tafeln und die Ökonomisierung der Armutsbekämpfung und kommt richtigerweise zu dem Schluss, dass die Reichen die eigentlichen Sozialschmarotzer seien, denn sie sind es, die auf Kosten der weniger Reichen und vor allem der Armen leben, und dass Hartz-IV ein fieses Diffamierungssystem ist. Was ich aber deshalb um so mehr vermisse, ist eine ernsthafte Analyse der Ursachen, warum das so ist. Hartmann hört dort auf, wo es spannend wird und kritisiert wie so viele andere auch nur die Auswüchse des Systems, die Symptome der Krankheit, aber dringt nicht zu den Ursachen vor.

Nein, es ist eben nicht nur der Neoliberalismus, der unsere Gesellschaft in die falsche Richtung treibt. Natürlich führt eine immer gnadenlosere Ökonomisierung sämtlicher Lebensverhältnisse auch dazu, dass der Zusammenhalt in der Gesellschaft schwindet und einzelne Menschen eben nicht mehr als Mensch an sich, sondern nur noch als potenzielle Produktionsmittel gesehen werden. Wer sich erfolgreich verkaufen kann, kann als Ego-Bürger auf die weniger erfolgreichen spucken, zartere Gemüter haben eher Mitleid mit den Verlierern. Aber es bleibt immer dabei, dass es Nutzlose gibt, die mehr oder weniger brutal aussortiert werden. Aber die Ursache dafür sind doch nicht ein bisschen zu viel Liberalisierung hier und dort, sondern das System an sich: Im Kapitalismus ist der Mensch eben nur ein Produktionsmittel. Damit das gut funktioniert, muss es halt versorgt werden mit Sozialstaat und so weiter, aber das alles ist nur Mittel zum Zweck! Es geht nicht um die Menschen, nie, selbst wenn ein mehr oder weniger üppig ausgestatteter Sozialstaat so tut, als sei das anders.

Und wenn man so viele Leute für die Produktion nicht mehr braucht, wie das derzeit der Fall ist, dann lässt man sie eben auf dem Niveau vegetieren das die jeweilige Gesellschaft für angemessen hält, aber nicht ohne ihnen klar zu machen, dass sie mit dieser Alimentierung Objekte der bürgerlichen Wohltätigkeit sind, und eben nicht gleichberechtigte, souveräne Mitmenschen. Das an sich ist der Skandal – und nicht die Höhe des Hartz-IV-Satzes.



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