(Vincent Deeg)
Ein leises Rascheln nur, das Knarren der Stufen im Treppenhaus oder der viel zu lange Blick eines Fremden genügt, dass sich Heikes Nackenhaare aufstellen, sich ihre Arme mit einer Gänsehaut bedecken, ihr Herz bis zur plötzlich trockenen und sich zuschnürenden Kehle zu schlagen beginnt, ihr der kalte Schweiß in kleinen Bächen von der Stirn rinnt und sich ihre Glieder, zu jeder Bewegung unfähig in Stein verwandeln.
Es ist die Angst, die Heike bis zum heutigen Tage begleitet. Die Angst, die zu ihr kam, als sie zwölf Jahre alt war. Als sie zu einer der vielen Gefangenen des lila Drachens wurde.
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Damals, im Sommer 1978 verstand die kleine Heike nicht, was es zu bedeuten hatte, als man ihr sagte, dass ihre Mutter, die sie auf der Arbeit wähnte, die sich noch am Morgen mit einem langen Kuss und einer ebenso langen Umarmung von ihr verabschiedet hatte, eine Verräterin sei, die nicht nur die DDR an den Feind verraten, sondern auch ihr Kind im Stich gelassen hatte. Nein. Damals, als man Heike von zu Hause abholte, als man sie in den vor dem Haus wartenden Wagen schob um sie in eines der unzähligen Kinderheime zu bringen, die es in der DDR gab, ahnte sie noch nicht, welch böses Spiel man mit ihr spielte und auch nicht, welch dunkle und grausame Hölle dort auf sie warten würde.
Eine Hölle, in der Heike, wie die meisten der dort untergebrachten Kinder nur ein wert- und rechtloses Verräterbalg war, das man nicht nur zu jeder Zeit und ungestraft demütigen und schlagen, sondern, wann immer man wollte, für seine perversen Neigungen missbrauchen konnte.
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Es brauchte nicht sonderlich viel, um dem Heimleiter Erich Schulze negativ aufzufallen. Ein vermeintlich unfreundlicher Blick, eine kleine Unaufmerksamkeit, ein Fehler bei den Hausaufgaben oder ein von der nächtlichen Angst genässtes Bettlaken reichte bereits aus, um den Zorn dieses Mannes auf sich zu ziehen. Um von ihm bestraft zu werden.
„Böse Kinder müssen bestraft werden.“ Klingt es Heike noch heute in den Ohren, wenn sie sich an diese schreckliche Zeit zurück erinnert. Es waren die Worte von Erich Schulze, die er besonders den jüngeren und weiblichen Insassen des Kinderheimes immer wieder in die kleinen Köpfe hämmerte. Und es waren die Worte, die sie und vermutlich viele andere Mädchen hören mussten, wenn sie Ihrer sicheren Bestrafung entgegen sahen. Wenn sie es nicht geschafft hatten, sich vor Erich Schulze zu verstecken. Wenn sie diese Mann für mehrere Tage und Nächte in den feuchten und dunklen Keller sperrte. Dort, wo er sie schlug und sich immer wieder an ihnen verging. Wenn er sie einzeln, zu zweit oder auch zu dritt in sein Büro zitierte, in dem er dem oder den Opfern grinsend befahl, sich vor ihm zu entkleiden, vor seiner Fotokamera eindeutige Posen einzunehmen und nachdem er das oder die verängstigten Mädchen mit seinem Lederriemen zur Genüge geschlagen hatte, sich selbst, sich gegenseitig oder ihn, wobei dieses Ungeheuer keinerlei Grenzen kannte, sexuell zu befriedigen.
An all diese furchtbaren Erlebnissen erinnert sich Heike noch immer, als wären sie erst gestern geschehen. An die Angst, die im nächtlichen Schlafraum wie ein giftiger Nebel über den Betten der Mädchen waberte. An die schrecklichen Momente, in denen eines oder mehrere Kinder, deren Schicksal für die im Schlafraum zurückgebliebenen auf der Hand lag, aus ihren Betten geholt wurde. An die vielen und verzweifelten Hilferufe, die von den anderen Erziehern einfach ignoriert oder als Lüge abgetan wurden.
Hilferufe, die einige Jahre später zur einer Anklage wurden. Als Heike trotz ihrer Erlebnisse zu einer jungen und klar denkenden Frau heran gewachsen war und die grausamen Taten dieses Mannes zur Anzeige brachte. Eine Anzeige, die schwerwiegende Folgen haben sollte. Jedoch nicht für Erich Schulze, der, wie Heike später aus ihrer Stasi Akte erfuhr, ein höchst angesehener, äußerst einflussreicher und natürlich unantastbarer Parteigenossen war, der keinerlei Skrupel kannte und dem es keine Mühe machte, sein Opfer von damals, das er als eine miese Verräterin der DDR und Handlangerin des kapitalistischen Westens bezeichnete, in die nächste und nicht weniger schreckliche Hölle zu schicken.
Eine über Jahre andauernde Hölle, die aus mehreren langen Haftstrafen in verschiedenen Jugend- und Erwachsenengefängnissen, wie zum Beispiel dem Jugendhaus Torgau oder dem Frauengefängnis Hoheneck bestand und die für die inzwischen tatsächliche Feindin der DDR erst endete, als die Mauer fiel und das von ihr verhasste SED Regime sein Ende fand.
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Heute lebt Heike in der Hansestadt Hamburg. Dort, wo sie noch immer von Ärzten betreut wird, wo sie ohne Antidepressiva nicht leben kann und wo sie mir, mit zitternden Händen und immer wieder leise erschreckend, wenn ein neuer Gast den Raum betrat, von ihrer unfassbaren aber doch wahren Geschichte erzählte. Von einer Geschichte, in der es nur Opfer, jedoch keine Bestraften und erstrecht kein Happy End gibt.
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Was wurde aus dem Ungeheuer Erich Schulze? Was wurde aus den Erziehern, die Heike und all den anderen Kindern damals die Hilfe verweigerten? Sie wurden zu keiner Zeit zur Rechenschaft gezogen. Erich Schulze, der bereits zum Zeitpunkt seiner Gräueltaten ein recht betagter Mann war, verstarb noch vor dem Mauerfall 1989 an Altersschwäche und die Hilfeverweigerung der Erzieher war inzwischen längst verjährt.
Und was wurde aus dem lila Drachen, der, wie in Heikes Fall, die noch immer nicht weiß, wer oder wo ihre Mutter ist, so viele Leben, der so viele Kinderseelen zerstörte? Ihn gibt es noch immer. Doch versprüht er sein Gift heute nicht mehr im Osten Deutschlands. Von dort ist er damals Hals über Kopf geflohen.
Nein. Heute tut er das in Chile. Dort, wo er viele seinesgleichen fand und von wo aus er verhöhnend auf seine Opfer spuckt und ohne Reue die alten Zeiten feiert.
Wir kennen seinen Namen. Er lautet Margot Honecker. Die damalige graue Eminenz der SED, Ministerin für Volksbildung der DDR und heutige Witwe von Erich Honecker, dem ehemaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR. Sie ist der lila Drachen. Ein Name, den man ihr damals der besonderen Haarfarbe wegen gab. Und ein Name, dem sie auch in anderer Hinsicht, nämlich durch ihr Tun oder Unterlassen alle Ehre machte.
Denn Margot Honecker trägt, wie wir heute wissen, sowohl die Verantwortung für das Verbrechen der Kindesverschleppung und der Zwangsadoption von Kindern „politisch fragwürdiger“ Eltern, als auch die Verantwortung für die unmenschlichen und zum Teil grausamen Zustände, die in den DDR Kinderheimen und Jugendhäusern herrschten. Zustände, die Margot Honecker nicht nur wissentlich tolerierte, sondern förderte.
Diese Geschichte beruht auf eine wahre Begebenheit. Alle hier beschriebenen Namen wurden geändert.
Margot Honecker(Der lila Drachen)
Eine damals überaus bösartig und absolut
machthungrig Despotin,von der heute nicht mehr übrig geblieben ist, als eine verbitterte und noch immer uneinsichtig alte Frau ohne Reue, die, obwohl sie es eigentlich besser wissen müsste, für Deutschland den Kommunismus und Sozialismus prognostiziert.
Ja. Frau Honecker. Bringen Sie Deutschland den Kommunismus.
All ihre Opfer warten schon auf Sie.